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Marianne und der fremde Gast
Von Erich Paetzmann
E ines Samstags, so zwischen zehn und elf, als
Marianne Kröger gerade beim Gläserspülen war,
trat ein junger Mann in die Gaststube und ver=
langte ein Bier und einen guten Kümmel.
„Kümmel ist leider nicht oben", sagte Marianne
und schenkte das Bier ein, „aber vielleicht darf es
ein Korn sein?"
„Nein, das darf es nicht. Übrigens, was heißt das:
nicht oben?"
„Im Keller haben wir noch, aber dann müßte ich
erst frisch abfüllen."
„Ach so — na, dann will ich mir das meinetwegen
nochmal überlegen." Damit trank er sein Bier an,
tupfte sich mit dem hellblauen Schmucktuch den
Schaum von den Lippen und musterte Marianne
sehr ungeniert.
„Hm — sagen Sie mal", be=
gann er nach einer Weile,
„das Dorf ist ja so leer.
Sind die Leute alle auf dem
Feld?"
„Nein, die sind zur Kirche
in das Nachbardorf. Der
Amtsvorsteher hat nämlich
heute Trauung, das heißt,
seine Tochter."
„Aha. Dann sind Sie ganz
allein im Hause, nicht
wahr? Fürchten Sie sich
nicht?"
„Ich? Nein, wieso?" lächelte
Marianne, „wer sollte mir
denn was tun?"
„Nun, Ihnen wohl weniger,
aber vielleicht Ihrem Geld,
das Sie drüben im Vertiko
verwahrt haben."
„Woher wissen Sie denn
das?"
„O, ich vermute es nur.
Und außerdem wird ja et=
was Wechselgeld in der
Kasse liegen, so zehn bis
zwanzig Mark."
„Nein,soviel sind es nicht!"
versicherte Marianne hasti*
ger, als es das Gespräch er=
forderte, aber sie bemerkte
plötzlich zu ihrem Schrecken, daß der junge Mann
einen eigentümlich kalten und beobachtenden Aus»
druck in den Augen hatte. „Nein, längst nicht so=
viel!" beteuerte Marianne nochmals, „wirklich! Sie
glauben mir wohl nicht, was? Oder warum sehen
Sie mich so an?"
„Weil ich mir gerade vorzustellen suche, wie Sie
sich wohl einen Einbrecher ausmalen. Mit Stier»
nacken, wie? Und Stoppelbart wie ein Räuber aus
dem Walde. Wissen Sie, mein liebes Fräulein, wie
zum Beispiel der Einbrecher aussah, der vor zwei
Jahren den Geldschrank der Molkerei drüben aus»
genommen hat?"
„Nein, aber woher wissen Sie denn das? Er ist
doch nicht gefaßt worden."
Marianne kam bis an die Kellertreppe, dann war ihr ganzer Vorrat an Mut aufgebraucht. . .