Full text: 1960 (0088)

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Stirn und flüsternden Lippen, während ihr Finger unter den Druckzeilen hinglitt. Sie setzte die Brille ab 
und legte sie in die Buchfalte und klappte die Bibel zu, und dann begann sie zu erzählen. Der Tonfall 
klingt mir noch im Ohr. Die Worte flössen von ihrem Mund, langsam, stetig, wie Wasser aus einem 
alten, unerschöpflichen Brunnen: „Da ist mal eine wilde Frau im Wald gewesen . . . Da hat einmal 
unten in Italien ein armer Mann gelebt, der schrieb sich Philipp Neri ... Es war einmal ein kranker 
Kaiser . • . Drüben überm Wald, da ist einmal ein Bauer spät in der Nacht heimgegangen . . ." So und 
ähnlich fingen diese Geschichten alle an. In ihnen waren die Menschen, die Tiere, der Wald, die frucht* 
baren oder verheerten Äcker, waren die Sehnsüchte und Leidenschaften, die Verfehlungen und Sünden 
waren Gott und die Schar seiner Engel und Heiligen, waren Ordnung und Chaos, der ganze Kosmos im 
engen Gleichnis bäuerlicher Bilder und Worte. Noch heute führt mich mancher Weg und Umweg ins 
Dorf der Mutter, wenn ich verfallen bin und hadere mit der Welt und mit mir selbst. 
Doch immer wieder fuhr ich in eine der zahlreichen Gruben ein und sah den Leuten vor der Kohle zu, 
wenn sie, mit entblößten, geschwärzten Oberkörpern und schweißgebadet die Kohlen losschrämten, 
wenn sie die Strecken ausbauten und verpfählten. Ich sah die gewaltigen Lademaschinen, die Kompres* 
soren, die Elektrolokomotiven, die langen Züge der dröhnenden, rumpelnden Förderwagen, die Kabel, 
Rohre, Leitungen, und über Tag die Siebereien und Wäschen, die Koksbatterien und Kraftwerke, und 
am Ende sah ich doch immer nur den Mann, den Menschen, der neben mir lebte, mit mir lebte, für 
mich lebte. 
Immer wieder waren es jene Männer, die ich als Kind einmal in schweigenden Trupps in der Nacht über 
die Brücke nach Hause hatte gehen sehen, und es beglückte mich, über das alles einmal zu schreiben, 
so wie ich es jetzt tue, in dieser feuchtschwülen Vorsommernacht, in der die Menschen schlafen und 
Stille das Haus umfängt, während tief unter mir, tief unterm Haus im Innern der Erde, in den Strecken 
und Querschlägen die Bohrhämmer rattern und während sie an den Hochöfen stehen, an den Bessemer* 
Birnen, in den Walzengassen und Stahlwerken. Ich höre das alles wie aus weiter Ferne ...
	        
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