111
L A()Cfkvv>ürbme5 mib
<ü^e^ewwisv>o((es um ben ^pieejcl
w as soll schon an einem Spiegel Merkwürdiges
oder Geheimnisvolles sein? Eine Glasscheibe, de=
ren Rückseite mit einem metallblanken Überzug
versehen ist, wirft das Licht zurück! Weiter nichts!
Oder vielleicht nur eine blanke und polierte Me=
tallscheibe ohne Glas? Möglicherweise auch ein
natürlicher Spiegel, z. B. die ruhige Wasserober=
fläche eines dunklen Teiches! Was ist sonst daran?
Eine alltägliche, nüchterne Angelegenheit!
Dennoch bleibt ein geheimnisvoller, mystischer
Hintergrund mit dem Spiegel verbunden. Das
Wort vom Zauber des Spiegels taucht immer wie=
der auf und nicht umsonst haben Künstler, Maler,
Schriftsteller dem Spiegel größtes Interesse zuge=
wendet. In gleicher Weise bedeutsam ist der Spie=
gel für den Techniker, für den Optiker, für die
wissenschaftliche Welt.
Du betrachtest dein Bild im Spiegel. „Schau, so also
seh' ich heute aus! Hm! Da das Fältchen ist nicht
eben erwünscht. Wie? Das mißmutige Gesicht soll
ich haben? So alt! Die Haare unordentlich! Bäh,
dummes Spiegelbild, geh weg! Was, du streckst
mir die Zunge heraus, diese graue, belegte Zunge.
Wie häßlich. Ach was!" Das Zwiegespräch hat ver=
ärgert. Der Spiegel aber kann auch anders spre=
chen: „Du gefällst mir recht gut heute! Hübsch
siehst du aus und sehr jung. Geh nur, so kannst
du überall gefallen."
Wieviele Menschen halten solche Zwiegespräche
mit ihrem Spiegel. Er soll ihnen die Wahrheit sa=
gen. Tut er das? Ist er unbestechlich? Die Frage
muß doppeldeutig beantwortet werden: ja und
nein. Wir nehmen uns zuerst einen guten ebenen
Spiegel vor ohne Fehler, ohne Krümmung und
betrachten darin uns selbst. Sofort beobachten wir,
daß links und rechts vertauscht ist. Halten wir eine
Druckseite vor den Spiegel, so können wir sie aus
diesem Grunde nicht lesen, es ist Spiegelschrift,
wie der Volksmund sagt. Versucht man im Spiegel
ein Viereck zu zeichnen, ohne auf die Hand selbst
zu schauen, so mißlingt das zunächst, und es er=
geben sich die sonderbarsten Zeichnungen. Das
junge Mädchen, das den Verlobungsring auf der
linken Hand trägt, braucht sich nur im Spiegel zu
beschauen, flugs sitzt der Ring auf der Rechten
Spieglein, Spieglein
an der Wand ...
und sie ist verheiratet. Die Links=Rechtsvertau=
schung ist also der erste Grund, um den Spiegel
der Unwahrheit zu bezichtigen.
Jeder Porträtmaler weiß, daß der Spiegel ein sehr
gutes Hilfsmittel ist, um Fehler seiner Porträtzeich=
nung ausfindig zu machen. Gelingt ihm die Ähn=
lichkeit eines Kopfes nicht, so hält er seinen Ent=
wurf vor den Spiegel, überraschend erkennt er Ab=
weichungen und Mängel durch die Vertauschung
der Symmetrie. Man betrachte, um dies zu prüfen,
einmal eine Photographie, ein Paßbild eines gut
bekannten Kopfes im Spiegel. Nur bei sehr regel=
mäßig geformten Gesichtern scheint das Spiegel=
bild getreu zu sein, im allgemeinen aber wirkt es
merkwürdig fremd. Die Rechts=Linksvertauschung
ändert die Wirklichkeit insofern, als die Abbil=
düng sozusagen von einem anderen Standpunkt
aus betrachtet wird. Unserem Auge können dabei
Einzelheiten auffallen, die ihm vorher entgangen
„Mädchen mit Spiegel" von Vigee Lebrun