Full text: 1960 (0088)

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w as soll schon an einem Spiegel Merkwürdiges 
oder Geheimnisvolles sein? Eine Glasscheibe, de= 
ren Rückseite mit einem metallblanken Überzug 
versehen ist, wirft das Licht zurück! Weiter nichts! 
Oder vielleicht nur eine blanke und polierte Me= 
tallscheibe ohne Glas? Möglicherweise auch ein 
natürlicher Spiegel, z. B. die ruhige Wasserober= 
fläche eines dunklen Teiches! Was ist sonst daran? 
Eine alltägliche, nüchterne Angelegenheit! 
Dennoch bleibt ein geheimnisvoller, mystischer 
Hintergrund mit dem Spiegel verbunden. Das 
Wort vom Zauber des Spiegels taucht immer wie= 
der auf und nicht umsonst haben Künstler, Maler, 
Schriftsteller dem Spiegel größtes Interesse zuge= 
wendet. In gleicher Weise bedeutsam ist der Spie= 
gel für den Techniker, für den Optiker, für die 
wissenschaftliche Welt. 
Du betrachtest dein Bild im Spiegel. „Schau, so also 
seh' ich heute aus! Hm! Da das Fältchen ist nicht 
eben erwünscht. Wie? Das mißmutige Gesicht soll 
ich haben? So alt! Die Haare unordentlich! Bäh, 
dummes Spiegelbild, geh weg! Was, du streckst 
mir die Zunge heraus, diese graue, belegte Zunge. 
Wie häßlich. Ach was!" Das Zwiegespräch hat ver= 
ärgert. Der Spiegel aber kann auch anders spre= 
chen: „Du gefällst mir recht gut heute! Hübsch 
siehst du aus und sehr jung. Geh nur, so kannst 
du überall gefallen." 
Wieviele Menschen halten solche Zwiegespräche 
mit ihrem Spiegel. Er soll ihnen die Wahrheit sa= 
gen. Tut er das? Ist er unbestechlich? Die Frage 
muß doppeldeutig beantwortet werden: ja und 
nein. Wir nehmen uns zuerst einen guten ebenen 
Spiegel vor ohne Fehler, ohne Krümmung und 
betrachten darin uns selbst. Sofort beobachten wir, 
daß links und rechts vertauscht ist. Halten wir eine 
Druckseite vor den Spiegel, so können wir sie aus 
diesem Grunde nicht lesen, es ist Spiegelschrift, 
wie der Volksmund sagt. Versucht man im Spiegel 
ein Viereck zu zeichnen, ohne auf die Hand selbst 
zu schauen, so mißlingt das zunächst, und es er= 
geben sich die sonderbarsten Zeichnungen. Das 
junge Mädchen, das den Verlobungsring auf der 
linken Hand trägt, braucht sich nur im Spiegel zu 
beschauen, flugs sitzt der Ring auf der Rechten 
Spieglein, Spieglein 
an der Wand ... 
und sie ist verheiratet. Die Links=Rechtsvertau= 
schung ist also der erste Grund, um den Spiegel 
der Unwahrheit zu bezichtigen. 
Jeder Porträtmaler weiß, daß der Spiegel ein sehr 
gutes Hilfsmittel ist, um Fehler seiner Porträtzeich= 
nung ausfindig zu machen. Gelingt ihm die Ähn= 
lichkeit eines Kopfes nicht, so hält er seinen Ent= 
wurf vor den Spiegel, überraschend erkennt er Ab= 
weichungen und Mängel durch die Vertauschung 
der Symmetrie. Man betrachte, um dies zu prüfen, 
einmal eine Photographie, ein Paßbild eines gut 
bekannten Kopfes im Spiegel. Nur bei sehr regel= 
mäßig geformten Gesichtern scheint das Spiegel= 
bild getreu zu sein, im allgemeinen aber wirkt es 
merkwürdig fremd. Die Rechts=Linksvertauschung 
ändert die Wirklichkeit insofern, als die Abbil= 
düng sozusagen von einem anderen Standpunkt 
aus betrachtet wird. Unserem Auge können dabei 
Einzelheiten auffallen, die ihm vorher entgangen 
„Mädchen mit Spiegel" von Vigee Lebrun
	        
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