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An Benedetto Bianchi hätte kein Mensch mehr
gedacht, wenn nicht Max, das Roß des Bauern
Hasler, gewesen wäre, und der Knecht Daniel,
der vierzehn Tage nach dem Verschwinden
Bianchis mit einem zweirädrigen Karren Holz
aus dem Bergwald holte. Die Zufahrt zu der
Stelle, wo die schon abfuhrbereiten Scheite auf
gestapelt waren, ging über eine mäßig anstei
gende Fläche, die man das „Dörni" nennt — wie
der Name sagt: ein von Dornen und Gestrüpp
bewachsenes Stück Land mit teils sandigem
Boden, teils von Geröll bedeckt. Die alljährlich
hier niedergehenden Lawinen häuften es auf,
und es wäre unmöglich gewesen, aus dem Dörni
Kulturland zu schaffen. Füchse und Dachse hüte
ten dort ihre Baue, außerdem gab es sehr viele
Vipern, so daß das Gebiet selten betreten wurde.
Ein Pfad führte nicht darüber hin, und mit einem
wirklichen vierräderigen Wagen wäre Daniel
nicht durchgekommen, sondern hätte einen lan
gen Umweg nehmen müssen, um zum Holz zu
gelangen. Doch mit dem Karren ging es holter-
dipolter über Stein und Gesträuch, und die
Vipern fürchtete der Knecht nicht, weil er wußte,
daß sie harmlos waren, bei der geringsten Er
schütterung des Bodens flohen, froh, wenn man
ihnen nichts tat.
Daniel war eben ein besinnlicher Mann, zu
rückgezogen, ja scheu vor den Menschen, aber
unermüdlich im Beobachten der Natur, ob sie
sich nun in einer flüchtig hingleitenden Schlange
äußerte oder in Max, dem Roß, mit dem den
Knecht eine gute Kameradschaft verband. Er
polterte also mit dem Karren durch das Dörni
und half Max dort, wo es etwa zu hart ging, in
dem er in die Speichen griff und den Karren
lüpfte.
Da blieb das Roß stehen, unvermittelt und die
Vorderhufe in den Boden gestemmt. Da kein
sichtlicher Grund für solches Verhalten bestand,
hätte jeder andere Fuhrmann den Gaul durch
Zurufe, Peitschenknallen oder gar Schläge zum
Weitergehen angetrieben. Daniel jedoch vergaß
augenblicklich den Zweck der Fahrt und stellte
sich die Frage: warum bleibt der Max stehen?
Er kannte seinen Gefährten genau und wußte,
daß ein sehr zwingender Grund vorhanden sein
mußte. Und vor allem: er beobachtete ihn sofort.
In diesem Augenblick gab es für Daniel nichts
Interessanteres als das Pferd. Mir hat er dann,
während im Dorfe und später in den Zeitungen
die phantastischen Berichte von mystischen
Ahnungen, vom sechsten Sinn und unheilwit
terndem Instinkt des Tieres umgingen, erzählt,
wie es war.
„Ich habe sofort gewußt, daß der Max was
schmeckte" — wobei er für Riechen das landes
übliche Wort verwendete. „Er hatte die Nüstern
gebläht und sog die Luft ein, wobei er Zeichen
sichtlicher Aufregung und Unruhe gab. Und
zwar schmeckte er nicht nach oben oder gerade
aus, sondern gegen den Boden zu. Die wenigsten
Menschen wissen, wie unendlich fein das Ge
ruchsvermögen des Pferdes ist. Man glaubt, es
empfange seine Wahrnehmungen durch die
Ohren oder Augen, aber diese spielen nur eine
untergeordnete Rolle. Das Pferd ist ein Nasen
tier, genau wie der Hund. Man könnte es ohne
weiteres wie diesen zum Fährtensuchen verwen
den, wenn es nicht ein Pflanzenfresser wäre, da
her also kein Interesse an der Spur eines Hasen
oder Rehes hat. Hingegen ist ihm die Witterung
des Menschen vertraut, und in diesem Falle wit
terte es eben einen Menschen. Außerdem mußte
ihn an diesem Menschen etwas erschrecken, das
zeigte das ängstliche Verhalten des Tieres."
So ungefähr, nur in schlichter, mundartlicher
Ausdrucksweise, berichtete mir der Knecht. Die
Stelle, wo Max um keinen Preis weitergehen
wollte, war eine flache Mulde, mit Sand und Ge
röll erfüllt. Da keine Pflanzendecke vorhanden
war, gab es auch kein Anzeichen dafür, daß hier
gegraben worden war, denn der Boden war
leicht und unauffällig dem Terrain des Dörni
gleichzumachen.
Aus dem Verhalten Maxens jedoch erkannte
der Knecht, daß hier trotzdem etwas verborgen
war — etwas! Ein düsteres Geheimnis. Er um
ging die Stelle, wobei ihm das Pferd willig folgte,
erreichte den Holzstoß, lud ihn auf und brachte
ihn auf dem gut fahrbaren Umweg ins Tal.
Dann jedoch stach ihn die Neugierde. Er hatte
sich den Platz gut gemerkt und ging mit Schau
fel und Harke abends hin. In einem halben Meter
Tiefe fand er die Leiche des Benedetto Bianchi.
Sie war ihrer Kleider beraubt, und auch das
Geld, seine Ersparnisse, waren verschwunden.
Er war durch mehrere Messerstiche getötet
worden.
Den Mörder hat man nie gefunden. Aber das
wesentliche an diesem Bericht ist nicht der
Raubmord, sondern das Verhalten des Pferdes,
das keineswegs etwas Unerklärliches, mit einem
uns unbegreiflichen Ahnungsvermögen zu deu
tendes hat, sondern auf eine natürliche Erklä
rung zurückzuführen ist.
NEUFANG [njb] -
MALZBIER