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*^ie bekannteste Dillinger Volkssage ist die
/J von der eingemauerten „Weißen Frau" im
Alten Schloß der Hüttenstadt. Nach der
Überlieferung will man im Hofe des Alten
Schlosses oft eine „helle" Gestalt gesehen haben,
die weinend und klagend in einem Ecktürm
chen (nach anderen Berichten in der Schloß
kapelle) verschwand. Der Volksmund begründet
diese Erscheinung damit, daß einer der Ritter
der Baronie Dillingen eine wunderschöne Frau
gehabt haben soll, die er zur Strafe für began
gene Untreue oder unehrenhaftes eheliches Ver
halten lebendig in jenem halbrunden Ecktürm
chen einmauern ließ. Seitdem geistert die Ärmste
nachts als „Weiße Frau". Diese Sage wird in ver
schiedener Fassung erzählt.
Man ist nun als Sagensammler versucht, dem
Kern bzw. dem Entstehen dieser Volksüberlie
ferung nachzuspüren. Geht man dabei die Ge
schlechter der uns bekannten Dillinger Regenten
durch, so findet man allerdings nur eine histo-
Seitdem geistert die Ärmste nachts als
„Weiße Frau" . . .
rische Persönlichkeit, die in den Augen des Vol
kes moralisch als treulos so belastet erscheint,
daß die Bevölkerung ihre „Bestrafung" ge
wünscht haben mag: Die einzige Herzogin von
Dillingen, Katharina Kest. Außerdem muß man
— um dem Sagenkern näher zu kommen — ver
gleichsweise die vielen ähnlichen Sagen über
geisternde „Weiße Frauen" unserer Sagenwelt
heranziehen, denn dann stößt man auf die Ur-
gestalt" aller weißen Frauen überhaupt, auf die
Gräfin Katharina von Orlamünde nämlich, das
„Hausgespenst" der Hohenzollern.
Katharina von Orlamünde geistert auf Burg
Lauenstein in Oberfranken, ihrem Witwensitz.
Sie versuchte jahrelang, den Hohenzollern Al-
brecht, Burggraf zu Nürnberg, zum Gemahl zu
gewinnen, wobei sie ihre zwei Kinder tötete, die
einer Ehe mit dem Nürnberger Burggrafen im
Wege standen. Katharina von Orlamünde starb
später elendiglich im Pestlager zu Nürnberg,
voller Haß auf das ganze Geschlecht der Hohen
zollern, denen sie seitdem Tod und Verderben
ankündigt. So zeigte sie in Gestalt einer „Wei
ßen Frau" im Schlosse von Rudolstadt dem
preußischen Prinzen Louis Ferdinand seinen Tod
am 10. 10. 1806 bei Saalfeld an. In dieser Schlacht
soll sie auch Kaiser Napoleon I. erschienen sein,
um ihm den Sieg seines Heeres über die Trup
pen Louis Ferdinands vorauszusagen. Das Er
scheinen der „Weißen Frau“ wurde damals von
zeitgenössischen Autoren — und von Militärs!
— berichtet und kommentiert.
Nach einer anderen Lesart soll die „Weiße
Frau" der Hohenzollern der Geist einer Gelieb
ten eines brandenburgischen Kurfürsten des 16.
Jahrhunderts sein. Jener Kurfürst habe seine
Freundin im Jagdschloß Grunewalde lebendig
einmauern lassen. Seitdem künde sie den Hohen
zollern Unglück, und es ist interessant, daß diese
„Weiße Frau" in der Nacht vom 23. auf dem 24.
Mai 1940 (!) durch das Berliner Schloß gegeistert
sein soll, wo Passanten sie vom Lustgarten und
vom Schloßplatz aus beobachtet haben wollen.
Am 22. Mai 1940 wurde Prinz Wilhelm von Preu
ßen, ein Sohn des letzten deutschen Kronprin
zen, an der Westfront bei Valenciennes verwun
det. Er starb an dieser Verwundung am 25. Mai
1940.
Von der hohenzollerischen „Weißen Frau" zu
unserer Dillinger Sage spannt sich also die
Brücke einer einheitlichen Idee. Unsere Altvor
deren hatten keinerlei Verständnis für Untreue
ehelicher oder allgemeiner Art innerhalb der Fa
milien ihrer Herrschaften. So nimmt es nicht
wunder, daß sich in unserem Raum das Volk