Durch eine
Ohrfeige erlöst
Von Elisabeth K i r c h
rgendwo an der Saar befand sich im tiefsten
Wald ein Kreuzweg, den die Bewohnerder
umliegenden Ortschaften des nachts mieden; denn
hier, so ging die Mär, treibe ein Gespenst sein
Unwesen. Ob es wirklich ein Gespenst war, oder
ein ganz gewöhnlicher Räuber und Strauchdieb,
blieb lange Zeit umstritten.
Meist waren es Weg- und Landfremde, die auf
dem verrufenen Kreuzweg überfallen und aus
geplündert wurden. Und so geschah es in einer
linden Sommernacht auch einem arglosen Han
delsmann, der, von der Saar herkommend, an
den Rhein wollte. Er hatte gute Geschäfte ge
macht, und in Gedanken die Gulden und Batzen
zusammenzählend, die ihm sein Fleiß in einer
Woche eingebracht, stapfte er wohlgemut durch
den mondbeglänzten Wald. Er trug wahrlich ein
erkleckliches Sümmchen im Brustbeutel, der, eng
an den Busen geschmiegt, sein Herz in frohem
Takt schlagen ließ, und im schweinsledernen Por
temonnaie klimperten einige Dutzend Kreuzer,
jetzt griff er in den Rocksack, um sich der kleinen
Barschaft zu vergewissern, und wie er, zufrieden
vor sich hinschmunzelnd bedachte, daß sie immer
hin für ein reichliches Abendessen und ein an
ständiges Nachtquartier reichlich langte, stieß er
auf den Kreuzweg, der wie eine tückische Schlange
sich schräg aus dem Tannenduster wand.
Etwas verwirrt blieb der Händler stehen, un
schlüssig, ob er sich nun nach rechts oder links
wenden solle. Da trat plötzlich aus dem Geheck
ein baumlanger Kerl, von Kopf bis Fuß in ein
Leintuch gehüllt. Dem Händler sträubten sich die
Haare, und sein Herzblut stockte für einen Atem
zug, als der Vermummte mit schauriger Stimme
rief: „Heda, den Geldbeutel heraus, oder es geht
dir ans Leben!“
Mit zitternden Händen griff der Händler in
die Rocktasche und unter Zähneklappern und kei
nes Wortes mächtig, warf er dem Unheimlichen
die Barschaft vor die Füße, und den Rucksack
fester schulternd, nahm er den ersten besten Weg
unter die Schuhsohlen und rannte angstgepeitscht
davon.
, Hinter ihm her geisterte ein hohles Gelächter,
das dem Ärmsten schier das Blut in den Adern
gerinnen ließ. Schweißtriefend langte er im näch
sten Dorfe an, trat wankend in ein Wirtshaus,
wo noch trinkfeste Zecher die Bänke drückten
und bestellte einen guten Pfälzer. Der tat dann
auch seine Wirkung und als er dem Manne die
Zunge gelöst, berichtete er von seinem nächt
lichen Erlebnis. Die Männer, lauter stattliche
Kerle, rückten näher zusammen, als müssten sie
sich gegen das Gespenst verwahren. Und unter
Geraune und Geflüster hub eine lebhafte Unter
haltung an. Man tuschelte von ähnlichen Über
fällen auf dem verrufenen Kreuzweg; aber nicht
lange, da erhob sich ein heftiger Streit um den
Übeltäter. Die Alten versicherten, es sei ein Ge
spenst das dort umgehe, schon hundert Jahre
und länger, wie es schon ihre Väter berichteten.
Die Jungen wollten es aber nicht wahrhaben
und behaupteten in ihrem jugendlichen Starrsinn,
es sei ein Mensch aus Fleisch und Blut, ein
ganz geriebener Gauner und Strauchdieb. Sie sagten
es mehr um den Alten zu widersprechen und in
dem eitlen Drang, für aufgeklärt zu gelten. In
ihrem Innersten indessen geisterte heimlich der
gruselige Glauben an das Gespenst.
Ein paar Jahre nach dieser Begebenheit, die noch
lange im Munde der geängstigten Bevölkerung
war, geschah es wiederum, daß ein Mann nächtens
auf den verrufenen Kreuzweg stieß. Er hatte im
benachbarten Städtchen auf dem Markt zu lange
gesäumt und, wie es so geht, einen Schoppen über
den Durst getrunken. Als er jetzt, lustig gröh-
lend, seiner gehobenen Stimmung Luft machte,
trat plötzlich eine Gestalt im weißen Leintuch
auf ihn zu „Gib dein Geld her oder du bist ein
Kind des Todes!“ rief der Geheimnisvolle mit
schauerlicher Stimme. „Was —?“ antwortete der
Mann, der sofort nüchtern war, und schlug dem
Gespenst um die Ohren, daß es nur so ins Tal
hinein knallte und schallte. Da drehte sich die
Gestalt wie ein Kreisel ein paarmal um sich
selbst und jauchzte: „Gott sei Dank! Jetzt bin
ich erlöst! Auf diese Ohrfeige habe ich über
hundert Jahre gewartet!“ So wenigstens verstand
der beherzte nächtliche Wanderer. Das geheimnis
volle Gespenst aber war spurlos verschwunden.
Jetzt stieg der Mond silbrig glänzend über
den Bäumen auf, und als seine Strahlen ge
heimnisvoll über Wege und Pfade hinhuschten,
entdeckte der Mann am Boden einen Beutel, ge
spickt mit Gold. Er hob ihn auf und, den reichen
Schatz als Lohn für seine Erlösungstat ansehend,
stapfte er vergnügt nach Hause. — Der Geist
aber soll sich von nun ab nie mehr gezeigt
haben.