Full text: 1956 (0084)

162 
eines 
Von C. L. Schaffner, Ottweiler 
Es ist um die Mittagsstunde, kurz nachdem der 
heulende Ton der Sirenen noch einmal die Er 
innerung an dunkle vergangene Tage wach 
gerufen hat. Von und zum Bahnhof der Stadt 
fluten die Massen hastender Menschen, getrieben 
und gepeitscht durch den trüben Alltag von der 
Sorge um das tägliche Brot. Auf dem Damm 
der schier endlosen Straße drängt sich eine unab 
reißbare Kette von Autos aller Typen und Größen 
und ihr zur Seite wie eine leichte, aufklärende 
Truppe das Heer der Motorräder und Fahrräder. 
Langsam nur, zitternd und stöhnend vor Unge 
duld, schiebt sich die Schlange in gebändigtem 
Tempo weiter. In das Gehupe der Wagen und in 
das Brummen der gedrosselten Motore mischt sich 
mit hellem Klang das Geläut der Straßenbahn 
züge. 
Wie ein Fels im brodelnden Meer steht inmitten 
des Straßengewühls ein weißgekleideter Verkehrs 
schutzmann. Unermüdlich sucht sein Arm der 
Verkehrsschlange nach allen Richtungen Bahn zu 
brechen. Doch immer wieder sammeln sich neue 
Wagen an diesem Brennpunkte des Verkehrs. In 
dichten Reihen säumen die Passanten die Bürger- 
Schluß von Seite 161 
ihr Taschentudi, dann bricht es hysterisch aus ihr 
hervor: Dodran sin Sie doch ganz allän schuld!“ 
Der Alte stellt sich noch harmloser: „Was wollen 
Sie? — Ich?“ „Nadierlich! Das hätte Ihre Frau 
doch kinne gleich son, daß die än Kotelett vagift 
war. Wenn mei Mann stirbt, han Sie in uff em 
Gewissen!“ 
Der Obersteiger konnte sich nicht halten, — 
er mußte hell auflachen. Die Frau wurde bös 
artig: „Was? Sie lache noch! Na, — so ebbes!“ 
Der Alte ließ sich nicht beirren; „Also, gehen 
Sie nur ruhig nach Hause und sagen Sie Ihrem 
Mann, er soll morgen wieder zur Schicht kom 
men, — das Kotelett war gamicht vergiftet. 
Meine Frau hatte ein falsches eingepackt. Ignaz 
soll es sich aber zur Lehre dienen lassen. Es 
kann doch sehr leicht tatsächlich mal der Fall 
sein, daß ein Kotelett für die Mäuse vergiftet ist.“ 
Boshafter konnten die Augen der Frau wirklich 
nicht mehr funkeln. Die Empörung verschlug ihr 
die Sprache. Wortlos und grußlos rauschte sie 
davon. Ignaz erschien am nächsten Tage wieder 
gesund, wenn auch noch etwas bleich und klein 
laut, zur Schicht. Und die Fleischportionen waren 
seitdem wieder merklich größer. 
steige. Wenige Waghalsige schlängeln sich durch 
die Wagenkette. Doch die meisten warten, er 
geben in ihr Schicksal, auf das Abheben der 
VVagenflut. 
Mitten unter ihnen, in vorderster Reihe, steht 
eine junge Mutter mit zwei herzigen, pausbäckigen 
Kleinen. Ungeduldig zerren sie an der Mutter 
hand und trampeln mit ihren kleinen Füßchen in 
den weißen Gamaschen. Unablässig fragen und 
plappern die Mündchen. Die rauhe Winterluft 
läßt ihre Stupsnäschen rot anlaufen. Die Kleinen 
frieren. Die Kälte kriecht durch ihre Wollkleidchen 
und die junge Mutter sieht mit Sorge das Ende 
des tapferen Aushaltens ihrer Kinder. Doch das 
Gewühl auf dem Straßendamm will kein Ende 
nehmen. 
J 
Da erkennt der weißgekleidete Herrscher des 
Straßenverkehrs die stumme Not der jungen 
Mutter. Wer weiß, vielleicht ist er selbst Vater 
zweier kleinen Menschenkinder, die zu Hause 
voll Sehnsucht auf ihn warten? Seine behand 
schuhte Rechte fliegt gebieterisch hoch, teilt die 
Kette der Wagen und schafft für die junge Mutter 
und ihre Kleinen eine Lücke, die sie eilig pas- 
sieTen. Hoch erhoben bleibt die Rechte des Man 
nes zur Abwehr, bis Mutter und Kinder den 
schützenden Bürgersteig gegenüber erreicht haben. 
Patschhändchen winken dem Retter. Dankend 
neigt die junge Mutter den Kopf, und der Ver 
kehrsschutzmann salutiert freundlich zurück. 
Noch ein frohes Kinderlachen — dann dröhnt 
wieder der Verkehr in brausenden Akkorden über 
die Straße und erfüllt die Schluchten der Häuser 
mit seinem eintönigen Lied.
	        
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