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Von Werner Jakobi, Saarbrücken
In einem kleinen Haus am Waldesrand, abseits
von aller Welt, lebte einmal eine arme Köhler
familie. Die Sorge ums tägliche Brot war oft Gast
in der Hütte. Acht Kinder hatte nämlich der
Köhler, die hatten immer Hunger und wollten
gefüttert werden; Leckerbissen kamen da nicht auf
den Tisch, sondern jeden Abend gab es Pell
kartoffeln und Sauermilch, von der einzigen Kuh,
die sie hatten. Trotzdem war es eine Lust, den
Mahlzeiten zuzusehen. Zehn Löffel fuhren so eifrig
in die große Schüssel, daß jeder gern mitgegessen
hätte. Die Kinder gediehen an Leib und Seele,
und die Augen der Eltern strahlten vor Stolz,
wenn sie sie ansahen.
An einem kalten Winterabend saß die Familie
wieder um den großen Tisch versammelt. Draußen
stürmte, schneite und regnete es. Gerade hatte
die Mutter die dampfenden Kartoffeln aufgetragen,
da klopfte es. Auf das „Herein!“ des Vaters trat
ein vornehmer Herr und eine Dame in die nied
rige Stube des Köhlers.
„Grüß Gott“, sagte der Herr, „wir sind mit
unserer Kutsche unterwegs und wollten heim in
die Stadt. Die Wege sind aber so aufgeweicht,
daß wir uns in der Dunkelheit nicht weiterwagen!“
„Bleiben Sie nur ruhig hier“, antwortete der
Köhler, „wo Platz für zehn, ist auch Platz für
zwölf. Und wenn Ihnen unsere Kost nicht zu
gering ist, so sind Sie herzlich eingeladen!“
Von Herzen froh bedankten sich die Gäste.
Nadidem der Köhler das Pferd abgeschirrt und
zu der Kuh in den Stall geführt hatte, langten
alle tapfer zu, und den beiden vornehmen Gästen
schmeckte das einfache Gericht unter all den fröh
lichen Gesichtem besser als daheim der feinste
Braten. Die Fremden hatten ihre helle Freude
an den sauberen, munteren Köhlerskindem, und
es war ihnen doppelt leid, daß der liebe Gott
ihnen kein Kind geschenkt hatte. Die größte
Freude aber hatten sie an der kleinen Rosel, dem
Nesthäkchen der Familie. Sie sah in ihren blon
den Löckchen und den blitzblauen Augen so lieb
aus, und das kleine Plappermäulchen plapperte
so natürlich und ohne Scheu, daß die fremde
Dame sie am liebsten gar nicht mehr von ihrem
Schoß herunter gelassen hätte. Es war schon spät,
als endlich alle schliefen und Ruhe eintrat im
Köhlerhäuschen.
Aber früh am Morgen waren sie alle schon auf
den Beinen, denn jeder hatte Arbeit und Pflichten,
auch die Kleinsten. Als alle mit den späten Abend
gästen um die Morgensuppe versammelt waren,
legte der Herr plötzlich seinen Löffel nieder und
sprach:
„Meine Frau und ich haben eine große Bitte.
Wir sind sehr reich und haben keine Kinder. Geben
Sie uns die kleine Rosel! Wir wollen sie halten
wie unser eigenes Kind. Wir wollen alles für sie
tun. Es wäre bestimmt zu ihrem Besten! Und
wenn wir nicht mehr leben, soll sie unser ganzes
Geld und all unsere Reichtümer besitzen!“
Rosels Mutter war sehr blaß geworden, und
auch der Vater sah bestürzt drein.
Erst wollten beide wie aus einem Munde rufen:
„Nein, wir geben doch unser Kind nicht her!“
Dann aber sahen sie sich in die Augen, und
beide dachten: „Wir dürfen jetzt nicht an uns
denken, sondern nur an unser Kind. Es wird es
ja in der Stadt bei den reichen Leuten viel besser
haben als bei uns.
Und nach einer Weile hob die Mutter den Kopf
und meinte:
„Wenn’s dem Vater und der kleinen Rosel
selbst recht ist, so will ich auch nichts dagegen
haben.“
Die dicken Tränen rannen ihr aber bei diesen
Worten über die Backen. Der Vater hatte nun
auch nichts mehr einzuwenden. Die kleine Rosel
aber war Feuer und Flamme, denn sie hatte die
neue Tante schon recht lieb gewonnen, und die
Neugier auf die große Stadt ließ kein Abschieds
weh aufkommen.
„Jedes Jahr im Sommer komme ich zu Euch“,
tröstete sie die weinende Mutter.
„Das Kind braucht nichts mitzunehmen, wir
kaufen ihm alles in der Stadt“, sagten Rosels
Pflegeeltem.
Nadidem sie für alles herzlidist gedankt hatten,
fuhren sie mit ihrem Pflegetöchterchen davon. Als
sie fort waren, schluchzte die Mutter laut auf, und
der Vater war ernst und bleich. Mäuschenstill
sammelten sich die Kinder hinter dem Ofen und
flüsterten sich Märchendinge zu, die das Schwester
chen nun erleben würde.
Rosel ahnte nichts von dem Weh, das sein
Scheiden im Elternhaus hinterließ. Sie blieb lustig
und guter Dinge. Sie gewöhnte sidi bald an die
Stadt mit ihren Häusermassen, ihrem Straßenlärm
und ihren Schaufenstern.