Full text: 1956 (0084)

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richtigen Sorgen kommen? Das hier ist noch gar 
nichts. Mein Großvater“, fuhr der Pilz fort, „soll 
immer gesagt haben: Mode vergeht und Natur 
besteht.“ Darauf schwieg der Pilz, denn es lief 
ihm ein garstiger Käfer über den Rücken, und 
gern hätte er sich gekratzt, aber es ging nicht. 
Gern hätte ihm auch der Tannenzapfen geant 
wortet, aber es ging auch nicht, denn die Tränen 
drückten ihm den Hals zu, und er hätte sich 
gar zu viel geschämt, wenn es die anderen ge 
merkt hätten. 
Überdem kam ein Vater mit seinen zwei Buben 
des Wegs daher. Der Vater trug einen großen, 
schweren Rucksack, den die Mutter zu Hause 
vollgepackt hatte. Dieser drückte ihn sehr, und er 
dachte, die Mutter habe ihnen, wie immer, viel 
zu viel mitgegeben, so daß er die Hälfte davon 
wieder mit nach Hause nehmen müßte. Aber sage 
einer etwas, die Mütter packen doch immer wie 
der zu viel ein. Die Mütter sind eben so, und 
er trug ihn daher mit Geduld. 
„Siehe den schönen Tannenzapfen“, rief einer 
der Knaben, „den nehmen wir mit nach Hause 
und hängen ihn an den Christbaum.“ Dabei hob 
er ihn auf und bat den Vater, er möge ihn in 
den Rucksack stecken. Zuerst wollte der Vater 
nicht, aber dann mochte er dem Jungen die 
Freude nicht nehmen und tat es doch. 
Sein Bruder sah inzwischen auf dem Boden 
umher und gewahrte den Pilz. Da rief er: „Ach, 
da steht ein garstiger Pilz.“ Er gab ihm einen 
Tritt, daß der arme Pilz weit davonflog. Der 
arme Pilz! Das war nicht redit. 
Nun lag der Tannenzapfen still im Rucksack 
und wurde dermaßen hin und her geschüttelt, daß 
ihm davon ganz wehe wurde. Zuletzt konnte er 
es nicht mehr aushalten und schlief ein. 
Die anderen aber, welche liegengeblieben, waren 
redit erbost. Sie schimpften darüber, daß aus 
gerechnet jener und nicht sie an den Christbaum 
gehängt wurden. „Ja, entweder hat einer Glück 
oder er hat keines“, zeterten sie, „aber redit ist 
es einmal nidit, daß es nur immer dieselben 
haben. 
Als der Tannenzapfen wieder erwadite, da lag 
er auf dem Küchenschrank, und die ganze Fa 
milie saß um den Tisch herum und verzehrte das 
Abendbrot. Die Mutter hielt auf ihrem Sdioß 
ein ganz kleines Mädchen, dem sie das Essen 
einsteckte. Nadidem sie alle mit dem Essen fertig 
waren, holte der Vater eine Pappsdiaditel, welche 
laut klirrte, hob davon den Deckel auf und warf 
den Tannenzapfen hinein, worauf er die Sdiaditel 
wieder schloß. 
Die Glaskugeln, welche darin lagen, sdirien 
auf vor Sdireck, als sie den Eindringling gewahr 
ten, und sehr reserviert zogen sie sich in eine 
Ecke zurück. Es war so entsetzlich finster in der 
Schachtel, daß man sich überhaupt nidit sehen 
konnte. 
„Was polterte denn jetzt da für eine garstige 
Person so anstandslos herein“, flüsterte eine Glas 
kugel, „ich dädite, man stellt sich doch zum 
wenigsten vor.“ 
„Wir werden bald leuchten“, sagte ein Wachs- 
lidit, „dann wird es hell. Fast scheint mir aber, 
als sei es ein Stück Holz gewesen.“ „Ich bin kein 
Stück Holz“, ließ sidi der Tannenzapfen zaghaft 
vernehmen, „sondern ein Tannenzapfen, und ich 
soll an den Christbaum gehängt werden.“ „Was?“ 
schrien entsetzt die Glaskugeln, „an den Christ 
baum gehängt werden? Ja, hat man denn sdion 
so etwas gesehen oder gehört? Einen Tannen 
zapfen an den Weihnachtsbaum hängen? Nein, 
das lassen wir uns nicht gefallen! Ist man viel- 
leidit dazu als vornehme Glaskugel auf die Welt 
gekommen, um sidi in so schlediter Gesellsdiaft 
sehen lassen zu müssen?“ 
Dabei rückten die Glaskugeln noch ein wenig 
weiter ab, daß es nur so klirrte, und die Wachs- 
liditer taten desgleidien, denn sie wollten es nicht 
mit ihnen verderben. 
Die Stimmung war recht eisig. Der arme Tan 
nenzapfen war bedrückt, und trotzig drehte er 
sich auf die Seite, indem er murmelte: „Mode 
vergeht und Natur besteht, mach' dir nichts draus, 
hat der Pilz gesagt, und so werde ich es tun.“ 
Und das tat er und schwieg. 
„Was soll ich gesagt haben?“ platzte der Glas 
pilz heraus, denn er glaubte, zuerst nidit recht 
verstanden zu haben. „Jetzt hört dodi alle Frech 
heit auf. Ich habe dodi überhaupt nidits gesagt.“ 
„Idi meinte ja nicht didi“, erwiderte der Tan 
nenzapfen, „sondern den Pilz draußen im Walde.“ 
„Den Pilz im Walde?“ empörte sich der Glas 
pilz. „Ja, gibt es denn dort auch Pilze? Nein, da 
protestiere idi dagegen!“ 
Dodi der Tannenzapfen versteifte sich darauf, 
daß es draußen im Wahle riditige Pilze gäbe 
und keine so sdiäbige aus Glas wie dieser hier. 
Er wandte sidi dabei erklärend an die Wadis- 
liditer in der Annahme, diese seien die Ver 
nünftigsten. Diese merkten, daß er sie für ver 
ständige Leute hielt, und weil sie sich ge- 
sdimeichelt fühlten, schwiegen sie vorsiditig, um 
keinem an den Kopf zu stoßen. Desto mehr 
sdirien aber die Glaskugeln, die Glocke und der 
Glaspilz, und je lauter der Tannenzapfen brüllte, 
es gäbe im Walde edite Pilze, um so lauter 
wetterten die anderen, sie glaubten es nidit, und 
er sei ein ganz gemeiner Lügner. Und obgleidi 
sie nidit den geringsten Beweis dafür hatten, be 
standen sie darauf, weil sie sich für sehr gesdieit 
hielten und einfach nidits zugeben wollten. 
Zuletzt waren sie alle heiser. Der Tannenzapfen 
schwieg gekränkt und auch die anderen verhielten 
sich still oder flüsterten unter sich. Kurz, der 
Kradi war da, und dabei blieb es, weil keiner 
den ersten Schritt tun wollte. Aber langweilig 
war es dodi, so in Feindschaft dahinzuleben, und 
es bedrückte alle. Unfriede ist eine peinliche 
Sache, besonders wenn man zusammen wohnt.
	        
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