Full text: 1954 (0082)

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Der wunderbare grüne Felsen 
Von W. Jakobi, Saarbrücken 
E s war einmal eine arme Holzfällerfamilie. 
Die hatte nur eine einzige Toditer. Weil der 
Vater oft krank war, reichte das Geld, das er 
von seiner Arbeit mit heimbrachte, nicht für 
das Nötigste. Der größte Reichtum, den die 
Familie hatte, war die schwarze Kuh. Von ihrer 
Milch und ein paar Kartoffeln ernährten sie sich 
den Winter über. 
An einem heißen Sommertag geschah es nun, 
daß die Kuh sehr krank wurde und starb. Dar 
über war die arme Holzfällerfamilie der Ver 
zweiflung nahe. Jetzt im Sommer konnten sie 
sich ja noch von den Beeren und Pilzen im Wald 
ernähren. Was aber sollte im Winter aus ihnen 
werden? 
An einem kühlen Herbsttag nun, als in der 
ganzen Hütte nichts mehr zu essen zu finden 
war, machten sich die drei auf in den tiefen 
Wald. Dort setzten sie sich unter eine Tanne, 
um einzuschlafen. Der liebe Gott würde sie viel 
leicht zu sich nehmen, und alle Not hätte ein 
Ende. Plötzlich hörten sie dicht neben sich die 
Stimme, die sagte: „Ich kenne euren Kummer! 
Geht heute abend zum grünen Felsen! Ihr kennt 
ihn ja! Alle vier Jahre, eine Stunde vor Mitter 
nacht, öffnet er sich für eine Stunde. Ihr werdet 
dort Schätze im Überfluß finden, so daß Ihr nie 
mehr in Not kommt. Aber seht zu, daß Ihr 
rechtzeitig wieder draußen seid, sonst seid Ihr 
für euer Lebtag gefangen!" Die Holzfällerfamilie 
erschrak sehr über die Stimme. Dann aber 
faßten die drei neuen Lebensmut und gingen 
heim in ihre Hütte. 
Spät am Abend machten sie sich auf zum 
grünen Felsen. Unbeweglich stand er da wie 
immer, über und über mit grünem Moos be 
wachsen. Ob sie sich auch nicht getäuscht hatten? 
Eben hörten sie vom fernen Kirchturm Glocken 
schläge. Es war eine Stunde vor Mitternacht. 
Wie gebannt sahen die drei auf den grünen 
Felsen. Da — beim letzten Glockenschlag wurde 
der mächtige Steinblock wie von unsichtbarer 
Hand beiseite geschoben, und ein dunkler 
Höhlengang wurde frei. Zögernd näherte sich 
der Holzfäller dem Eingang, dann aber winkte 
er in freudiger Überraschung zurück. Als sich 
seine Augen ein wenig an das Dunkel gewöhnt 
hatten, sah er, daß die Stimme sie nidit ge 
täuscht hatte. Aus der Tiefe leuchtete es wie 
Gold und Silber entgegen. Schnellen Schrittes 
gingen die drei auf das Leuchten zu, und bald 
befanden sie sich in einer weiten Halle. Ge 
blendet schlossen sie die Augen. Alles in der 
Höhle war aus Gold und Silber. An den Wänden 
entlang standen auf langen Regalen goldene 
Gefäße und Geschirre, überall standen silberne 
Truhen, die bis obenhin mit Goldstücken ange 
füllt waren. Von der Halle aus führten Gänge 
zu anderen Hallen, in denen es ebenfalls von 
Gold, Silber und auch Edelsteinen blitzte. — 
„Schnell", sagte der Holzfäller zu seiner Frau, 
„eine Stunde ist kurz, fülle alle Taschen, auch 
deine Schürze. Ich werde auch alle Taschen 
füllen!" — Und nun rafften Vater und Mutter 
von den Schätzen zusammen, was sie nur tragen 
konnten. Plötzlich hörten sie ganz in der Ferne 
Glockenschläge. Die Stunde mußte gleich vor 
über sein. Hastig wendeten sie sich dem Aus 
gang zu. Wo aber war ihr Kind? — Uber all 
den Schätzen hatten sie es vergessen. Voll 
Schrecken riefen sie seinen Namen. Keine Ant 
wort. Gleich mußte die Uhr den letzten Schlag 
tun. Sie warfen alle Schätze von sich und liefen 
dem Ausgang zu, und hofften, ihr Kind schon 
draußen zu finden. Kaum standen sie schwer 
atmend wieder bei dem grünen Felsen, als es 
zwölf schlug und der Felsblock sich wieder vor 
den Höhleneingang schob. Voller Entsetzen sahen 
Vater und Mutter zu, denn ihr Kind war nir 
gends zu sehen. Es mußte gefangen sein. 
Nun kam eine traurige Zeit für den Holzfäller 
und seine Frau. Am liebsten wären sie ge 
storben, nur die Hoffnung, ihr Kind nach vier 
Jahren wiederzusehen, hielt sie noch aufrecht. 
Vier lange Jahre warteten sie auf den Tag, 
an dem sich der grüne Felsen wieder öffnen 
würde. Um die elfte Stunde fanden sie sich bei 
ihm ein, und auf den Glockenschlag öffnete sich 
wieder die Höhle. Vater und Mutter stürzten in 
die funkelnde Halle, doch ihre Augen sahen die 
Schätze dieses Mal nicht. Laut riefen sie den 
Namen ihrer Tochter. Beim dritten Male stand 
plötzlich ein alter Mann vor ihnen. Der sprach: 
„Was stört Ihr unsere Ruhe! Eure Tochter ist 
bei mir! Sie ist glücklich! Ihr geht es viel besser 
bei mir, als es ihr bei euch gehen könnte. 
Kommt selbst und seht!" Dann führte der Alte
	        
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