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WERDEN und WESEN
EINER SAARLÄNDISCHEN
INDUSTRIESTADT
Von Bernhard K r a j e w s ki,
Neunkirchen/Kohlhol
Mit dem Begriff Industriestadt verbindet sich
häufig die Vorstellung, daß da, wo vorher nur
Ödland, Wald oder Agrarland war, in kurzer
Zeit Industrieanlagen mit ausgedehnten Ar
beiterwohngebieten wie Pilze nach einem war
men Regen aus der Erde schießen. Eine solche
Vorstellung trifft auf keine saarländische Indu
striestadt zu, insbesondere nicht auf Neun
kirchen.
Als Stadt im rechtlichen Sinne ist Neunkirchen
noch sehr jung, erst 30 Jahre alt, aber als Sied
lung reicht seine Entwicklung viele Jahrhunderte
zurück. Auf dörflicher Grundlage langsam ge
wachsen, vollzog sich der Übergang zum Stand
ort einer Schwerindustrie ziemlich rasch, in nur
wenigen Jahrzehnten um die Jahrhundert
wende. Die Frage, — warum und wie wurde
Neunkirchen Industriestadt — ist eine mehr
siedlungs-geschichtliche als historische Frage,
die in nachstehendem Aufsatz beantwortet wer
den soll.
Die formenden Kräfte am Bilde einer jeden
Siedlung sind nicht aus Urkunden und Akten
ablesbar — so wertvoll diese als Quelle und
Beleg sind. Das lebendige, drängende Leben läßt
sich nicht ans Papier binden, sondern wirkt im
tätigen Menschen und den Gegebenheiten der
Natur: also die Landschaft und der Mensch er
klären primär Entstehung und Wachstum, Fort
schritt oder auch Rückgang eines Dorfes, einer
Stadt.
Die heutige Industriestadt Neunkirchen ist
aus einem Waldland erwachsen, aus einem sied
lungsgeschichtlich „toten" Raum einer Wald
zone, die sich seit urdenklichen Zeiten im mitt
leren Saarland auf dem Steinkohlengebirge von
SW nach NO dahinzog. Lange hat der bäuer
liche Mensch diesen Urwald gemieden, bis etwa
um das Jahr 1000 alle waldfreien Gebiete un
serer Heimat voll ausgenutzt und besiedelt
waren. Da griff die nachdrängende Jungmann
schaft, neuen Lebens- und Wohnraum suchend,
den Wald an und mit der Axt in der Faust
wurde der Urwald gelichtet. In diesem so
genannten Rodungszeitalter und der anschlie
ßenden Ausbauzeit wurde Neunkirchen angelegt
und gegründet. Diese Zeit besitzt jugendlichen
Schwung und vitale Energie, die nicht nur bei
den Bauern, sondern auch bei den Grundherrn
als Siedlungsträger spürbar ist. Nur so ist es zu
erklären, daß damals auf dem heutigen Neun-
kircher Bann fünf Dörfer fast zur gleichen Zeit
entstanden: Alsweiler, Rodenbach, Furpach,
Neunkirchen und etwas später Wellesweiler.
Drei Dörfer wurden nach einigen Generationen
als Fehlgründungen erkannt und verlassen. Als
weiler und Rodenbach gingen ganz ein, Furpach
bildete sich in einen Hof zurück, nur Neun
kirchen und Wellesweiler zeigten Bestand, da
hier die natürlichen Gegebenheiten die günsti
geren waren.
Der dörfliche Charakter Neunkirchens, wie er
durch seine Anfangsentwicklung grundgelegt
war, hat sich im Siedlungsbild des Ortes bis
zum Ende des 19. Jahrhunderts erhalten. Erst
die Industrialisierung veränderte den Charakter
und das Gesicht des Dorfes völlig. Neunkirchen
wurde Industriestadt, wuchs sprunghaft, un
organisch, weil verschieden starke Siedlungs
tendenzen auf das Wachstum einwirkten: das
stille Dorf, die beiden Schloßbauten und die
Ausbeutung der reichen Bodenschätze.
Die Anlage des Dorfes
Neunkirchen liegt geologisch gesehen auf der
Grenze von Buntsandstein und Karbon. Der
Unterort liegt im Karbon, der Oberort im Bunt
sand. Die erste Anlage des Dorfes erfolgte im
Buntsandsteingebiet des heutigen Oberen Mark
tes im Bereich der Marktstraße, Heizengasse
und Steinbrunnenweg, dort, wo ein natürlicher
Quellhorizont sich herausgebildet hatte. Der
wasserspeichernde Buntsandstein liegt hier auf
der alten Oberfläche des Karbon auf, und eine
Reihe von Schichtquellen treten hier zutage:
Steinbrunnen, Fischkasten, Haken- und Wolfs
brunnen. Hier fließt das lebenspendende Ele
ment, ohne das keine menschliche Siedlung
existieren kann. Zudem liegt diese erste Sied
lungsfläche im Wind- und Regenschatten der
höher gelegenen Schloßstraße, besitzt leichte
Süd- und Südostlage und meidet vor allem das
Überschwemmungsgebiet des Bliestales. Auf
dieser günstigen Siedlungsgrundlage beginnt