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Wir leben in einer schnellebigen Zeit. Erfin
dungen und Entdeckungen jagen einander,
schnell und immer schneller wird unser ganzes
Leben technisiert. Neuerungen, die gestern noch
als Wunder angestaunt wurden, sind heute
überholt und werden morgen zum alten Eisen
geworfen. Wem würde es noch einfallen, die
Eisenbahn, die immerhin das ehrwürdige Alter
von hundert Jahren erreicht und überschritten
hat, noch als technisches Wunderwerk anzu
staunen. Wer zu ihren Dienern gehört, dem ist
das Ineinanderwirken ungezählter technischer
Einzelheiten, die zu ihrem reibungslosen Funk
tionieren notwendig sind, zum vertrauten Alltag
geworden. Der Laie aber ahnt kaum etwas da
von. Allenfalls kommt ihm ihre auch heute noch
nicht wegzudenkende wirtschaftliche Wirksam
keit zu Gesicht bei den Tag und Nacht ununter
brochen rollenden Reise- und Güterzügen, in
den eindrucksvollen Zahlen von Wirtschafts
statistiken.
Es ist noch nicht allzu lange her, daß Laun-
hardt (Am sausenden Webstuhl der Zeit) den
sieben Weltwundern der Alten Welt ebenso
viele Wunder der Jetztzeit gegenüberstellte. Zu
diesen neuen Wundern aber rechnete er die
Eisenbahn, die großen Brücken und Tunnels. Da
der Bau von Brücken und Tunnels erst durch
die Eisenbahn entstanden und weiterentwickelt
worden ist, so sind nach Launhardt nicht we
niger als drei von den sieben Wundern der
Neuzeit von der Eisenbahn in Anspruch zu
nehmen.
Erst als das geflügelt gewordene Rad sich mit
der glatten Schiene vermählte, als die Eisenbahn
zu ihrem Siegeszug antrat, hatte die Neuzeit
begonnen. Dabei ist es nicht so, als wenn die
Menschheit mit Sehnsucht auf diesen Zeitpunkt
gewartet hätte. Bis zur Eröffnung der Eisen
bahnen stand es um die Verkehrswege sehr
schlecht. Aber das war ein Zustand, an den sich
die Menschheit seit Jahrtausenden gewöhnt
hatte. So wenig vor dem Auftreten der Ge
brüder Wright die Menschen jemals das Be
dürfnis gehabt haben, zu fliegen (denn die Sage
von den Fliegern Dädalus und Ikarus blieb ein
Traum, an dessen Verwirklichung man nicht
denken konnte), so wenig gab es vor der Er
findung der Eisenbahn ein Verkehrsbedürfnis.
Zwar steckt die Wanderlust als Urtrieb in den
Menschen drin, aber das Leben stockte doch
nicht etwa dadurch, daß man keine häufigen,
schnellen und bequemen Reisegelegenheiten ge
habt hat. Die Eisenbahnen sind also nicht ent
standen, weil sie für die damaligen Menschen
erforderlich gewesen wären. Kein Mensch hatte
etwas Derartiges vermißt, solange es nicht vor
handen war. Erst die Eisenbahn hat also mit
der Möglichkeit des Verkehrs auch das Bedürf
nis eines Verkehrs überhaupt geschaffen. Die
großartige Erscheinung des ungeheuren Men
schen- und Güteraustauschs von Land zu Land
bestand in keines Menschen Vorstellung, bis sie
durch die Ausbreitung der Eisenbahnen sich ein
stellte.
Aus der Hand des Menschen ist keine Schöp
fung hervorgegangen, die es an Großartigkeit
mit der Anlage dieses Beförderungmittels auf
nehmen könnte. Um das Jahr 1800 gab es nicht
einmal den Begriff einer Eisenbahn —- nur 110
Jahre später, im Jahre 1910 betrug die Länge
aller Eisenbahnen auf der Erde rund 1 Million
100 000 Kilometer. Wenn man annimmt, daß nur
ein Viertel davon zweigleisig, die übrigen aber
eingleisig sind, so hätte man also mit der vor
handenen Schienenlänge den Erdumfang fünf-
unddreißigmal umwickeln können. Und man
denke nur an das ungeheure Gewicht einer
solchen Schienenlänge, das mindestens zehn-
tausendmal so hoch ist als das Gewicht des
höchsten und vermutlich auch schwersten Eisen
bauwerkes der Erde, des Eiffelturmes in Paris.
Würde man aus Schienenstahl eine massive
quadratische Säule gießen, deren Grundfläche
gerade so groß wäre wie das durch die äußer
sten Fußpunkte des Eiffelturmes gebildete
Quadrat und deren Höhe, wie die des Turmes,
300 Meter betragen würde, so würde diese
Säule noch nicht entfernt halb so viel wiegen
wie die Schienen aller Eisenbahnen zusammen.
Das Geburtsland der Eisenbahnen ist England.
Es ist nicht von ungefähr, daß jeder große tech