Full text: 1953 (0081)

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Wir leben in einer schnellebigen Zeit. Erfin 
dungen und Entdeckungen jagen einander, 
schnell und immer schneller wird unser ganzes 
Leben technisiert. Neuerungen, die gestern noch 
als Wunder angestaunt wurden, sind heute 
überholt und werden morgen zum alten Eisen 
geworfen. Wem würde es noch einfallen, die 
Eisenbahn, die immerhin das ehrwürdige Alter 
von hundert Jahren erreicht und überschritten 
hat, noch als technisches Wunderwerk anzu 
staunen. Wer zu ihren Dienern gehört, dem ist 
das Ineinanderwirken ungezählter technischer 
Einzelheiten, die zu ihrem reibungslosen Funk 
tionieren notwendig sind, zum vertrauten Alltag 
geworden. Der Laie aber ahnt kaum etwas da 
von. Allenfalls kommt ihm ihre auch heute noch 
nicht wegzudenkende wirtschaftliche Wirksam 
keit zu Gesicht bei den Tag und Nacht ununter 
brochen rollenden Reise- und Güterzügen, in 
den eindrucksvollen Zahlen von Wirtschafts 
statistiken. 
Es ist noch nicht allzu lange her, daß Laun- 
hardt (Am sausenden Webstuhl der Zeit) den 
sieben Weltwundern der Alten Welt ebenso 
viele Wunder der Jetztzeit gegenüberstellte. Zu 
diesen neuen Wundern aber rechnete er die 
Eisenbahn, die großen Brücken und Tunnels. Da 
der Bau von Brücken und Tunnels erst durch 
die Eisenbahn entstanden und weiterentwickelt 
worden ist, so sind nach Launhardt nicht we 
niger als drei von den sieben Wundern der 
Neuzeit von der Eisenbahn in Anspruch zu 
nehmen. 
Erst als das geflügelt gewordene Rad sich mit 
der glatten Schiene vermählte, als die Eisenbahn 
zu ihrem Siegeszug antrat, hatte die Neuzeit 
begonnen. Dabei ist es nicht so, als wenn die 
Menschheit mit Sehnsucht auf diesen Zeitpunkt 
gewartet hätte. Bis zur Eröffnung der Eisen 
bahnen stand es um die Verkehrswege sehr 
schlecht. Aber das war ein Zustand, an den sich 
die Menschheit seit Jahrtausenden gewöhnt 
hatte. So wenig vor dem Auftreten der Ge 
brüder Wright die Menschen jemals das Be 
dürfnis gehabt haben, zu fliegen (denn die Sage 
von den Fliegern Dädalus und Ikarus blieb ein 
Traum, an dessen Verwirklichung man nicht 
denken konnte), so wenig gab es vor der Er 
findung der Eisenbahn ein Verkehrsbedürfnis. 
Zwar steckt die Wanderlust als Urtrieb in den 
Menschen drin, aber das Leben stockte doch 
nicht etwa dadurch, daß man keine häufigen, 
schnellen und bequemen Reisegelegenheiten ge 
habt hat. Die Eisenbahnen sind also nicht ent 
standen, weil sie für die damaligen Menschen 
erforderlich gewesen wären. Kein Mensch hatte 
etwas Derartiges vermißt, solange es nicht vor 
handen war. Erst die Eisenbahn hat also mit 
der Möglichkeit des Verkehrs auch das Bedürf 
nis eines Verkehrs überhaupt geschaffen. Die 
großartige Erscheinung des ungeheuren Men 
schen- und Güteraustauschs von Land zu Land 
bestand in keines Menschen Vorstellung, bis sie 
durch die Ausbreitung der Eisenbahnen sich ein 
stellte. 
Aus der Hand des Menschen ist keine Schöp 
fung hervorgegangen, die es an Großartigkeit 
mit der Anlage dieses Beförderungmittels auf 
nehmen könnte. Um das Jahr 1800 gab es nicht 
einmal den Begriff einer Eisenbahn —- nur 110 
Jahre später, im Jahre 1910 betrug die Länge 
aller Eisenbahnen auf der Erde rund 1 Million 
100 000 Kilometer. Wenn man annimmt, daß nur 
ein Viertel davon zweigleisig, die übrigen aber 
eingleisig sind, so hätte man also mit der vor 
handenen Schienenlänge den Erdumfang fünf- 
unddreißigmal umwickeln können. Und man 
denke nur an das ungeheure Gewicht einer 
solchen Schienenlänge, das mindestens zehn- 
tausendmal so hoch ist als das Gewicht des 
höchsten und vermutlich auch schwersten Eisen 
bauwerkes der Erde, des Eiffelturmes in Paris. 
Würde man aus Schienenstahl eine massive 
quadratische Säule gießen, deren Grundfläche 
gerade so groß wäre wie das durch die äußer 
sten Fußpunkte des Eiffelturmes gebildete 
Quadrat und deren Höhe, wie die des Turmes, 
300 Meter betragen würde, so würde diese 
Säule noch nicht entfernt halb so viel wiegen 
wie die Schienen aller Eisenbahnen zusammen. 
Das Geburtsland der Eisenbahnen ist England. 
Es ist nicht von ungefähr, daß jeder große tech
	        
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