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1895 als das Geburtsjahr des Lichtspieltheaters
ansehen. Es dauerte noch etwa 10 Jahre, bis in
allen Großstädten die Kinos nur so aus dem
Boden schossen. Es handelte sich damals selbst
verständlich nur um stumme Filme. Als Dar
bietungsobjekte wurden vor allem stark be-
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wegte Vorgänge gefilmt. Das Publikum kannte
stehende Bilder zur Genüge, sie waren als lang
weilig abgetan. Die Kinotechnik begriff daher
sofort das Gebot der Stunde und überschwemmte
den Filmmarkt mit Kurzfilmen, in denen Be
wegung um jeden Preis gezeigt werden mußte.
Die Älteren unter uns werden sich mit Ver
gnügen an solche Filme erinnern. Verfolgungen
mit Dutzenden oder Hunderten von rennenden
Menschen, überall und immer wurde gerannt,
urkomisch dabei die ruckartigen Bewegungen.
Schlägereien, Menschengewimmel, übertriebene
Gesten, weitaufgerissene Münder, Sturzbäche
von Tränen, clownhaft lachende Gesichter,
trampelnde, zornbebende Menschen in un
sinnigen Gefühlsausbrüchen wurden auf der
Leinwand sichtbar.
Was Wunder, wenn vor dieser Hochflut
grotesker Übertreibungen der Film in ein
zweifelhaftes kulturelles Licht geriet und viele
Jahre ernsthafte Menschen zurückstieß. Hinzu
kam eine sensationslüsterne Reklame und Licht
spieltheater mit gewollt panoptikum-rummel-
hafter Aufmachung.
Geschlossene Vorstellungen gab es nicht. Alle
Filme waren Kurzfilme, Einakter mit fünf bis
zehn Minuten Spieldauer. Noch gab es nach
jedem Film lichterfüllte Pausen. Klavierspieler,
oder in teuereren Theatern kleinste Orchester,
malten die Filme musikalisch aus. Stundenlang
verharrten insbesondere Jugendliche im Kino,
bis auch sie die Wiederholungen des Programms
satt hatten. Sonntags mußte die Besuchszeit be
schränkt werden, oder es war ein doppelter,
dreifacher Eintrittspreis, je nach gewünschter
Besuchsdauer, zu zahlen. Jugendverbot war noch
unbekannt. Die Augen wurden in den Jahren
1905—1910 stark mitgenommen. Das Flimmern
auf der Leinwand war wesentlich stärker als es
heute ist. Man sagte gern etwas ironisch: „Ach,
wie das heute wieder regnet!“
Ein besonderes Kapitel waren die „Film-
Erklärer“. Kleine, oder auch besonders eifrige
Kinos mieteten sich für ihre Vorführungen
Sprecher, die den Inhalt des Films während der
Vorführung erklärten. Dies geschah nicht immer
geschickt, vielfach sogar lächerlich-theatralisch
oder in mangelhaftestem Deutsch.
Allmählich begann sich das Niveau der Filme
zu heben. Apparaturen, Aufnahme- und Wieder
gabetechnik wurden verbessert. An die Stelle
der Einakter traten Spielfilme von ein- und
zweistündiger Dauer. Umfangreiche Themen
wurden bearbeitet. Auf die künstlerische Aus
gestaltung wurde mehr und mehr Wert gelegt.
Regisseure großer Bühnen gingen zum Film
über, verpflichteten hervorragende Schauspieler
und entwickelten die neue Kunst in einem un
erhörten Ausmaß, Gegenüber dem Theater wurde
die Eigengesetzlichkeit des Films erkannt und
betont. In die Zeit nach dem ersten Weltkrieg
fielen die berühmten Filme von Ernst Lubitsch,
Paul Wegener, Conrad Veidt, Rene Clair usw.
Genannt sei aus dieser Zeit: der erste expres
sionistische Film „Das Cabinett des Dr. Cali-
gari" mit Werner Krauß, ferner „Nosferatu,
eine Symphonie des Grauens" als Muster
beispiele zur Ausschöpfung phantastischer Film
möglichkeiten. Aus der Stummheit des Films
wurde eine Tugend gemacht. Zwischentexte
wurden als unkünstlerisch nach Möglichkeit ver
mieden. Ein berühmter Film „Schatten" war ein
Versuch, ohne jedes geschriebene Wort auszu
kommen.
Aber schon tauchte am Horizont der erste
Tonfilm auf, der stumme Film sollte bald ver
schwinden. Versuche, das lebende Bild gleich
zeitig durch die Sprache des spielenden Menschen
oder durch seinen Gesang noch wirklichkeits
näher zu gestalten, begannen bereits um 1900.
Messter und Seeger in Deutschland, Gaumont in
Frankreich hatten teil an den Vorarbeiten.