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D er „Moritatensängei" oder „Mordgeschich
tenerzähler' ist aus dem Straßenbild unserer
Dörfer verschwunden wie so vieles, das dem
dörflichen Leben ein Gepräge gab. Wenn man
jedoch meint, daß ihm die Zeitung den Garaus
gemacht hätte, so muß ich widersprechen. Die
Zeitungen waren längst ein Lebensbedürfnis
der Menschen, als der .Beruf" des „Moritaten
sängers" noch existierte. Sein Verschwinden hat
ganz andere Gründe.
Der „Moritatensän
ger" ist der herunter
gekommene Nachkom
me nobler Ahnen. Jene
illustren königlichen
Sänger, die uns in
ihren Heldenepen groß
artige Beweise einer
hohen Erzählerkunst
hinterlassen haben, ge
hören zu ihnen. Doch
steht die „Moritat“
zum Heldenepos im
gleichen Verhältnis wie
die Rüpelszenen in
denShakespeare’schen
Dramen zum Auftre
ten von Königen und
anderen erlauchten Persönlichkeiten.
Das Mittel, mit dem sie Wirkung zu erzielen
versuchten, war das Entsetzen über eine
schreckliche Missetat, bei deren Schilderung den
Zuhörern eine Gänsehaut über den Rücken lief.
Oft spekulierten sie auf die dunkelsten In
stinkte im Menschen, gaben sich aber den An
schein eines in die sittliche Ordnung passenden
Tuns, indem sie ihrem Bericht eine moralische
Belehrung anfügten, die die Tugendhaftigkeit
lobte und das Laster tadelte.
Die „Mordgeschichtenerzähler" waren überall,
wo viele Menschen zusammenkamen und sie
auf einen starken Zulauf hoffen durften. Das
war besonders bei großen Jahrmärkten der
Fall. So waren sie die von ihnen bevorzugten
Plätze.
Als aber dieses „Handwerk" seinen Mann
schlecht zu ernähren begann, vielleicht weil die
Konkurrenz zu stark geworden war, gingen sie
auf’s Land, wo sie gern gesehen waren. Männer
und Frauen wanderten meistens zusammen,
weil die gesungene oder mitunter nur dekla
mierte Mordgeschichte durch den Zweiklang der
Stimmen einen weiteren Anreiz erhielt. Da
neben machten die „Künstler“ auch auf andere
Weise Reklame für sich. Sie führten Musik
instrumente mit sich — mit Vorliebe die Dreh
orgel — deren weinerlicher Ton zu der Stim
mung paßte, in die der
„Moritatensänger'
sein Publikum zu ver
setzen wünschte. Auch
Tanzbären und Affen,
deren menschenähn
liche Grimassen be
sonders von der Ju
gend bestaunt und be
lacht wurden, dienten
als Lockmittel.
Dem „Moritatensän
ger" war es nicht um
die Kunst zu tun. Es
kam ihm darauf an,
seinen Zuhörern das
Geld aus der Tasche
zu locken, das sie in
Beuteln aus Schweins
blase oder ins Schnupftuch geknotet, verwahr
ten. Um dieses Ziel zu erreichen, war ihm
jedes Mittel recht. Er fügte seiner „Moritat"
sowohl bei bildlichen Darstellungen wie im
begleitenden Text recht drastische Anspielun
gen bei, die seine Geschichte schaurig und
interessant machen sollten.
Doch seine „Betriebsmittel" und sein Können
reichten im ungleichen Kampf mit raffinierteren
Kräften nicht aus, seine Position zu behaupten.
Er scheiterte nicht an der Zeitung, sondern an
seiner inneren und äußeren Unzulänglichkeit
Die Erinnerung an ihn ist jedoch nicht aus
dem Bewußtsein des Volkes und insbesondere
nicht aus der Erinnerung der Landbewohner
verschwunden, und an Fastnacht feiert man
heute noch mancherorts fröhliche Auferstehung.
Die Jugend gibt dann, ganz in der früheren
Manier, mit den gleichen Effekten und dem
gleichen Rezept verfertigte „Mordgeschichten“
zum besten wie etwa die folgende:
Er wollte seinen Zuhörern das Geld
aus der Tasche locken.