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Pflanzen und Piere als Baumeister
Von Erich Hagel, Homburg
W ie oft stehen wir staunend vor Pflanze
und Tier und bewundern die plan- und
sinnvolle Bauart. Technische Probleme sind ein
fach und meisterhaft gelöst. Dabei sind Harmo
nie und architektonische Schönheiten nicht ver
nachlässigt worden. Was wir Menschen erst seit
kurzem in der Technik anwenden, benutzen
Pflanzen und Tiere bereits seit hunderttausen
den von Jahren. Noch vieles können wir auf
diesem Gebiet von der lebenden Natur ablesen
und lernen. Nur müssen wir mit offenen Augen
unsere Umgebung be
obachten. Wir können
nicht immer das Be
obachtete nachahmen,
da unsere Hand und
unsere Mittel oft un
zureichend und zu be
scheiden sind.
Schauen wir uns
einen Getreidestengel,
z. B. einen Roggen
halm, an. Er erreicht
eine Höhe von 2 m
und darüber hinaus.
Oben ist er 2 mm,
unten 5 mm, in der
Mitte also 3,5 mm
dick. Auf dem langen
dünnen Halm sitzt
obenauf die schwere
Ähre. Das ist genau
so, als würde jemand
sein Häuschen auf die
Spitze eines hohen Schornsteins bauen. Wer
wollte wohl darin wohnen? Der Roggenhalm
vermag aber die Last der Blätter und Ähren
zu tragen und selbst stürmischen Winden zu
widerstehen, ohne zu knicken.
Ein interessanter Vergleich:
Bauwerke
Höhe
Untere
Breite
Ver
hältnis
Schornstein
30 m
2,50 m
12 : 1
Turm des
Frankfurter Doms
96 m
18,00 m
5 : 1
Cheops-Pyramide
137 m
233,00 m
1 : 2
Eiffelturm
300 m
(breiter als hoch)
130,00 m 3:1
Roggenhalm
2000 mm
5 mm
400 : 1
Welche Einrichtungen geben dem Halm die
notwendige Festigkeit? Durch Querwände in
den Stengelknoten ist er wie ein mehrstöckiges
Gebäude unterteilt. Die Knoten entsprechen den
Lagen der Balken bzw. Eisenträgern in einem
Haus. Da der untere Halmteil die größte Last
zu tragen und bei Wind am meisten aus
zuhalten hat, liegen hier die Knoten dichter bei
einander. Der Halm wird von dem unteren Teil
der Blätter scheidenartig-umgeben. Entfernt man
diese Blattscheiden, so knickt er um. Die Blatt
scheiden geben also den unteren Stengelteilen
den nötigen Halt. Nach außen ist die Blatt
scheide durch ein festanliegendes Blatthäutchen
abgeschlossen, damit herablaufendes Wasser
nicht zwischen Blatt
scheide und Halm ge
langen und hier Fäul
nis hervorrufen kann.
Durch Abtasten oder
mit Hilfe der Lupe
stellt man leicht fest,
daß der Halm an
seiner Oberfläche ge
rippt ist. Diese kleinen
Rippen sind Verstei
fungen in der Längs
achse und bestehen
aus Befestigungsgewe
ben. Die Leitungs
bahnen für die Säfte
sind wie Säulen in der
Wandung des Halmes
angeordnet. Durch ihre
verstärkten Wände
verringern sie die Zer-
reißbarkeit. Als Halm
ist der Stengel hohl.
Hohle Träger besitzen eine enorme Druck-, Zug-
und Drehfestigkeit (vergleiche Masten- und
Flugzeugbau). So können wir abschließend fest
stellen, daß der Roggenhalm sich uns als ein
kleines technisches Meisterstück vorstellt. Seine
Vollkommenheit ist von Menschen noch in
keinem Bauwerk auch nur annähernd erreicht
worden.
Als eines der vielen ungelösten technischen
Probleme tritt uns die Leitung des Wassers in
der Pflanze von ihren Wurzeln bis in ihre
höchsten Zweigspitzen entgegen. Von einem
Straßenbaum durchschnittlicher Höhe werden an
einem Sommertag durch seine Blätter rund 300
Liter Wasser verdunstet. Diese müssen täglich
aus dem Boden bis in alle Teile der Laubkrone
befördert werden. 300 Liter Wasser sind etwa
30 Eimer voll! Unsere Waldbuchen sind im all
gemeinen 25—30 m hoch. Eine stattliche Weiß
tanne kann eine Höhe von 75 m erreichen, die
Kunsttormen der Natur