Full text: 1951 (0079)

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glanzen in Sage und Strauch 
S chon immer stand der Mensch in einem 
engen Verhältnis zu der Pflanzenwelt seiner 
Umgebung. Waren es wichtige Pflanzenteile wie 
Wurzeln, Zwiebeln, Knollen, Samen oder 
Früchte, die ihm zur Nahrung dienten, waren 
t 
es bestimmte Stoffe, die er den Pflanzen ent 
nahm, um damit seine Kranken zu heilen oder 
als Zaubermittel zu verwenden, waren es be 
sondere, nicht immer erklärbare Erscheinungen, 
die er an Pflanzen wahrnahm, und die sein 
Denken und Fühlen beschäftigten? überall er 
kennen wir hier eine zweckdienliche Beziehung 
zwischen Mensch und Pflanze. Aber auch das 
Gefühl verbindet den Menschen mit der Pflanze. 
Sei es das unauslöschliche Erlebnis, das er an 
einem taufrischen Morgen in einem einsamen, 
hochstämmigen Wald hatte? Sei es der farben 
prächtige Blütenteppich einer Hochgebirgsalm, 
der ihn in Andacht und Bewunderung versetzte? 
Immer sehen wir, daß das Verhältnis von 
Mensch und Pflanze ein sehr inniges ist und die 
Pflanzen in Sage, Sitte und Brauch von jeher 
eine große Rolle spielen. 
Dort, wo wir unsere Toten der Erde anver 
trauen, pflanzen wir Lebensbäume, Fichten und 
düstere Zypressen an. Schon von weitem kün 
den sie dem Auge, daß hier die Stätte der 
Trauer und des Friedens ist. Aber dort, wo wir 
das Leben bejahen, wo es aus übervollem Kelch 
VON ERICH HAGEL, HOMBURG 
sprudelnd schäumt, schmücken wir Straßen und 
Häuser mit bunten Blumen und frischem 
Birkengrün. 
Schon vor Jahrtausenden haben unsere Vor 
fahren in der Nähe ihrer Gehöfte Obstbäume 
angepflanzt und gezüchtet. Zuerst nahmen sie 
den Apfelbaum in Kultur, der in unserer Klima 
zone überall noch wild anzutreffen war. Nach 
und nach wurden auch andere Obstarten kulti 
viert. Dem Bauern sind seine Obstbäume stets 
ans Herz gewachsen. Nicht nur, daß er sich an 
der herrlichen Blütenpracht und den köstlichen 
Früchten erfreut, er kümmert sich auch sonst 
um sie, als Pfleger und als Freund. Darauf 
wiesen viele altertümliche Bräuche hin, von 
denen heute noch einige lebendig sind. So 
schüttelte man in der Christ- oder Neujahrs 
nacht in verschiedenen Gegenden die Obst 
bäume oder schießt durch ihre Zweige. Durch 
diesen Schock will man den schlummernden 
Geist des Wachstums wieder erwecken. Auch 
Opfer werden ihm gebracht. Zu Neujahr oder 
Fastnacht hängt man einen Strohkranz in die 
Krone der Obstbäume oder vergräbt ein Geld 
stück unter die Wurzeln, um den Geist des 
Wachstums günstig zu stimmen. Verschiedent 
lich ist es in bäuerlichen Gegenden seit alters 
her Brauch, daß ein Brautpaar zur Hochzeit und 
der Vater für jedes neugeborene Kind einen 
Obstbaum oder eine Linde pflanzt. 
überall gibt es alte Bäume, die als Sagen 
baume weit und breit bekannt sind. Dabei ist 
kein Volk so arm, in seinem Empfinden so kalt, 
daß , ihm diese tief wurzelnden, rauschenden 
Bäume der Heimat nicht beziehungsreich wären. 
Wer kennt nicht die Dorflinde? Die Ältesten 
im Dorfe erzählen von ihr. Was hat sie nicht 
schon alles erlebt? — Freud und Leid, Frieden 
und Krieg. Jedem Dorfbewohner ist sie ans 
Herz gewachsen. Was erzählt man nicht alles 
von ihr? Sie ist der Sagenbaum des Volkes. 
Wieviel Lieder singen von ihr daheim und in 
der Fremde: 
„Am Brunnen vor dem Tore, 
da steht ein Lindenbaum." 
oder 
„Die Linde lieb ich überaus. 
Es stand ja meines Vaters Haus 
Im Schatten einer Linde." 
In früheren Zeiten wurde unter der alten 
Linde Recht gesprochen und wurden Anord 
nungen der Landesobrigkeit verkündet. Wer
	        
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