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glanzen in Sage und Strauch
S chon immer stand der Mensch in einem
engen Verhältnis zu der Pflanzenwelt seiner
Umgebung. Waren es wichtige Pflanzenteile wie
Wurzeln, Zwiebeln, Knollen, Samen oder
Früchte, die ihm zur Nahrung dienten, waren
t
es bestimmte Stoffe, die er den Pflanzen ent
nahm, um damit seine Kranken zu heilen oder
als Zaubermittel zu verwenden, waren es be
sondere, nicht immer erklärbare Erscheinungen,
die er an Pflanzen wahrnahm, und die sein
Denken und Fühlen beschäftigten? überall er
kennen wir hier eine zweckdienliche Beziehung
zwischen Mensch und Pflanze. Aber auch das
Gefühl verbindet den Menschen mit der Pflanze.
Sei es das unauslöschliche Erlebnis, das er an
einem taufrischen Morgen in einem einsamen,
hochstämmigen Wald hatte? Sei es der farben
prächtige Blütenteppich einer Hochgebirgsalm,
der ihn in Andacht und Bewunderung versetzte?
Immer sehen wir, daß das Verhältnis von
Mensch und Pflanze ein sehr inniges ist und die
Pflanzen in Sage, Sitte und Brauch von jeher
eine große Rolle spielen.
Dort, wo wir unsere Toten der Erde anver
trauen, pflanzen wir Lebensbäume, Fichten und
düstere Zypressen an. Schon von weitem kün
den sie dem Auge, daß hier die Stätte der
Trauer und des Friedens ist. Aber dort, wo wir
das Leben bejahen, wo es aus übervollem Kelch
VON ERICH HAGEL, HOMBURG
sprudelnd schäumt, schmücken wir Straßen und
Häuser mit bunten Blumen und frischem
Birkengrün.
Schon vor Jahrtausenden haben unsere Vor
fahren in der Nähe ihrer Gehöfte Obstbäume
angepflanzt und gezüchtet. Zuerst nahmen sie
den Apfelbaum in Kultur, der in unserer Klima
zone überall noch wild anzutreffen war. Nach
und nach wurden auch andere Obstarten kulti
viert. Dem Bauern sind seine Obstbäume stets
ans Herz gewachsen. Nicht nur, daß er sich an
der herrlichen Blütenpracht und den köstlichen
Früchten erfreut, er kümmert sich auch sonst
um sie, als Pfleger und als Freund. Darauf
wiesen viele altertümliche Bräuche hin, von
denen heute noch einige lebendig sind. So
schüttelte man in der Christ- oder Neujahrs
nacht in verschiedenen Gegenden die Obst
bäume oder schießt durch ihre Zweige. Durch
diesen Schock will man den schlummernden
Geist des Wachstums wieder erwecken. Auch
Opfer werden ihm gebracht. Zu Neujahr oder
Fastnacht hängt man einen Strohkranz in die
Krone der Obstbäume oder vergräbt ein Geld
stück unter die Wurzeln, um den Geist des
Wachstums günstig zu stimmen. Verschiedent
lich ist es in bäuerlichen Gegenden seit alters
her Brauch, daß ein Brautpaar zur Hochzeit und
der Vater für jedes neugeborene Kind einen
Obstbaum oder eine Linde pflanzt.
überall gibt es alte Bäume, die als Sagen
baume weit und breit bekannt sind. Dabei ist
kein Volk so arm, in seinem Empfinden so kalt,
daß , ihm diese tief wurzelnden, rauschenden
Bäume der Heimat nicht beziehungsreich wären.
Wer kennt nicht die Dorflinde? Die Ältesten
im Dorfe erzählen von ihr. Was hat sie nicht
schon alles erlebt? — Freud und Leid, Frieden
und Krieg. Jedem Dorfbewohner ist sie ans
Herz gewachsen. Was erzählt man nicht alles
von ihr? Sie ist der Sagenbaum des Volkes.
Wieviel Lieder singen von ihr daheim und in
der Fremde:
„Am Brunnen vor dem Tore,
da steht ein Lindenbaum."
oder
„Die Linde lieb ich überaus.
Es stand ja meines Vaters Haus
Im Schatten einer Linde."
In früheren Zeiten wurde unter der alten
Linde Recht gesprochen und wurden Anord
nungen der Landesobrigkeit verkündet. Wer