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Strophen deutlich voneinander ab, werden zu
meist aber durch feine, kaum hörbare Töne
wie in eine Kette kostbarer Perlen zusammen
gereiht. Im einzelnen ist es vor allem die
Kraft und Fülle des Klanges, die uns beim
Nachtigallenlied so überrascht. Dem geübten
Ohr des Vogelkundigen genügt das Anschlä
gen nur eines Tones, um daraus sofort die
Nachtigall zu erkennen. Mit unbändiger Stür-
mischkeit und fast gellend laut klingen die
Schmettertouren des Liedes auf. Sie setzen
sich aus einer Reihe hastig vorgetragener Töne
zusammen, die ein innig verschmolzenes, glän
zendes Allegro bekunden und wohl scharf,
doch glockenrein der kleinen Kehle entquellen,
um zuletzt in einen prächtigen Triller von
unerhörter Schnelligkeit und Gewandtheit aus
zuklingen. Bei anderen Touren dieser Art
wieder überrascht uns ein Finale kraftvoll
schöner, doch ruhiger und fast sprechender Art.
Am tiefsten berühren im Nachtigallenlied
jedoch jene süßinnigen Molltouren mit ihren
weichen, schmelzenden und klagenden Partien,
die darum auch am höchsten geschätzt wer
den. Langsam, silberhell und mit zartestem
Stimmregister setzen diese Crescendostrophen
ein. Zehn, zwölf und bis zu 20 herrliche Flö
tentöne folgen einander, in der Höhe mählich
um eine Terz aufsteigend. Jeder folgende wird
reicher, voller, gedehnter und eindringlicher
gegeben. In seinem Aufbau mutet dieses Motiv
an wie eine leise, ringende, tränengetragene
Klage, die schmerzvoll anschwillt und mit auf
quellendem, ergreifendem Schluchzen endet.
Gerade diese Crescendostrophen und jene
Schmettertouren sind für das Nachtigallenlied
charakteristisch und einzigartig. Sie haben in
den Weisen keines unserer heimischen Sänger
irgendwie ein Gegenstück. Die typischen
Flötentöne des Nachtigallenliedes haben je
nach der individuellen Begabung des Sängers
eine höhere oder tiefere Lage. Von besonders
packender Wirkung sind die tiefen des zwei
gestrichenen g oder f, ähnlich denen einer
meisterlich vollendeten Frauenaltstimme mit
jenem so seltsam berührenden Dunkel des
Tiefenregisters.
Gerade der Umstand aber, daß das Nachti
gallenlied in seiner einzigartigen und könig
lichen Schönheit uns nur durch die wenigen
Lenzwochen von Ende April bis zu Mitte Juni
hin beglückt, macht es uns erst recht lieb und
teuer. Hinzu tritt ferner noch die Sonderheit
seines nächtlichen Aufklingens, wobei die laut
lose, wie mit verhaltenem Atem lauschende
Stille der Örtlichkeit den Sang nur noch um so
auffallender und eindringlicher gestaltet. Die
vielfach bekundete Annahme jedoch, daß die
Nachtigall nur des Nachts singe, ist durchaus
irrig. Schon der Laienbeobachter wird leicht
feststellen können, wie auch am hellichten
Tage oft durch Stunden hin die Standreviere
der Nachtigall von ihrem herrlichen Schlag
widerhallen.
Jedem von uns aber mag das Nachtigallen
lied stets neu unvergeßliche Erinnerungen
wecken an wundersame Maiennächte und be
glückte Wander- und Raststunden dort irgend
wo in einem trauten Winkel der Heimat. Sei
es nun, daß verträumte Naturidyllen den
Kulissengrund seiner Bühne staffierten, daß die
Realistik grollenden Dröhnens aus düsteren
Industriestätten unserer Lande mit ihm in eins
zusammenklang, oder daß selbst das nackte
Grauen öder Ruinen und Kriegstrümmer einen
ergreifenden Gegensatz zu seinem frohen
Lebensjubel erstellte: immer aber war es, daß
es uns Seele und Herz mit Andacht und
Ergriffensein durchschauerte und uns jene
hehre Göttlichkeit ahnend fühlen und erkennen
ließ, die alles Naturweben so wundersam und
beglückend durchschwingt und trägt . . .
c-Anmutige aßerbstsäncjer
,,Kennst du der Amsel Herbstgesang?" so
fragt der Naturpoet Heinrich Seidel in seinen
von leiser Herbstwehmut durchzitterten Vers-
N achtigall
Goldammer