Full text: 1950 (0078)

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Strophen deutlich voneinander ab, werden zu 
meist aber durch feine, kaum hörbare Töne 
wie in eine Kette kostbarer Perlen zusammen 
gereiht. Im einzelnen ist es vor allem die 
Kraft und Fülle des Klanges, die uns beim 
Nachtigallenlied so überrascht. Dem geübten 
Ohr des Vogelkundigen genügt das Anschlä 
gen nur eines Tones, um daraus sofort die 
Nachtigall zu erkennen. Mit unbändiger Stür- 
mischkeit und fast gellend laut klingen die 
Schmettertouren des Liedes auf. Sie setzen 
sich aus einer Reihe hastig vorgetragener Töne 
zusammen, die ein innig verschmolzenes, glän 
zendes Allegro bekunden und wohl scharf, 
doch glockenrein der kleinen Kehle entquellen, 
um zuletzt in einen prächtigen Triller von 
unerhörter Schnelligkeit und Gewandtheit aus 
zuklingen. Bei anderen Touren dieser Art 
wieder überrascht uns ein Finale kraftvoll 
schöner, doch ruhiger und fast sprechender Art. 
Am tiefsten berühren im Nachtigallenlied 
jedoch jene süßinnigen Molltouren mit ihren 
weichen, schmelzenden und klagenden Partien, 
die darum auch am höchsten geschätzt wer 
den. Langsam, silberhell und mit zartestem 
Stimmregister setzen diese Crescendostrophen 
ein. Zehn, zwölf und bis zu 20 herrliche Flö 
tentöne folgen einander, in der Höhe mählich 
um eine Terz aufsteigend. Jeder folgende wird 
reicher, voller, gedehnter und eindringlicher 
gegeben. In seinem Aufbau mutet dieses Motiv 
an wie eine leise, ringende, tränengetragene 
Klage, die schmerzvoll anschwillt und mit auf 
quellendem, ergreifendem Schluchzen endet. 
Gerade diese Crescendostrophen und jene 
Schmettertouren sind für das Nachtigallenlied 
charakteristisch und einzigartig. Sie haben in 
den Weisen keines unserer heimischen Sänger 
irgendwie ein Gegenstück. Die typischen 
Flötentöne des Nachtigallenliedes haben je 
nach der individuellen Begabung des Sängers 
eine höhere oder tiefere Lage. Von besonders 
packender Wirkung sind die tiefen des zwei 
gestrichenen g oder f, ähnlich denen einer 
meisterlich vollendeten Frauenaltstimme mit 
jenem so seltsam berührenden Dunkel des 
Tiefenregisters. 
Gerade der Umstand aber, daß das Nachti 
gallenlied in seiner einzigartigen und könig 
lichen Schönheit uns nur durch die wenigen 
Lenzwochen von Ende April bis zu Mitte Juni 
hin beglückt, macht es uns erst recht lieb und 
teuer. Hinzu tritt ferner noch die Sonderheit 
seines nächtlichen Aufklingens, wobei die laut 
lose, wie mit verhaltenem Atem lauschende 
Stille der Örtlichkeit den Sang nur noch um so 
auffallender und eindringlicher gestaltet. Die 
vielfach bekundete Annahme jedoch, daß die 
Nachtigall nur des Nachts singe, ist durchaus 
irrig. Schon der Laienbeobachter wird leicht 
feststellen können, wie auch am hellichten 
Tage oft durch Stunden hin die Standreviere 
der Nachtigall von ihrem herrlichen Schlag 
widerhallen. 
Jedem von uns aber mag das Nachtigallen 
lied stets neu unvergeßliche Erinnerungen 
wecken an wundersame Maiennächte und be 
glückte Wander- und Raststunden dort irgend 
wo in einem trauten Winkel der Heimat. Sei 
es nun, daß verträumte Naturidyllen den 
Kulissengrund seiner Bühne staffierten, daß die 
Realistik grollenden Dröhnens aus düsteren 
Industriestätten unserer Lande mit ihm in eins 
zusammenklang, oder daß selbst das nackte 
Grauen öder Ruinen und Kriegstrümmer einen 
ergreifenden Gegensatz zu seinem frohen 
Lebensjubel erstellte: immer aber war es, daß 
es uns Seele und Herz mit Andacht und 
Ergriffensein durchschauerte und uns jene 
hehre Göttlichkeit ahnend fühlen und erkennen 
ließ, die alles Naturweben so wundersam und 
beglückend durchschwingt und trägt . . . 
c-Anmutige aßerbstsäncjer 
,,Kennst du der Amsel Herbstgesang?" so 
fragt der Naturpoet Heinrich Seidel in seinen 
von leiser Herbstwehmut durchzitterten Vers- 
N achtigall 
Goldammer
	        
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