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Jahre vor uns, für unsere geschichtlichen Be
griffe ein ungeheurer Zeitraum. Erst jetzt
stehen wir auf der Schwelle, über welche die
„Krone der Schöpfung“ eintritt in das Stadium
des Vormenschen, des Anthropus, der die ge
waltigsten Taten des menschlichen Aufstiegs
vollbringt, sich die artikulierte Sprache schafft,
das Feuer bändigt, sich des ersten Hilfsmittels,
eines abgerissenen Astes, eines gewöhnlichen
Steines als einer Art Waffe oder Werkzeugs
bedient, der das Tierische von sich abstreift
und dessen Intelligenz, Geist, Seele ihn empor
hebt und vorbestimmt zum künftigen Meister,
zum Beherrscher unserer Erde.
Damit haben wir die 13 Sekunden der Erd
uhr rückwärts durchschritten. Relativ so
gegensätzlich — von dem einen Standpunkt
aus gesehen so winzig klein, so überaus kurz,
vom anderen Standpunkt aus so groß, so
unsagbar lang — in Wirklichkeit ein und
dasselbe.
Nach diesem allgemeinen Überblick über
Zeitraum und Maß, in welchen sich die
Menschheitsgeschichte abspielt, wenden wir
uns einem Fund zu, der 1941 in Ludweiler
im Warndt gemacht wurde und der für die
Urgeschichte des Saarlandes von hervorra
gender Bedeutung ist. Es ist ein Faust
keil der älteren Steinzeit, in der Lehm
grube einer Ziegelei als Zufallsfund aufge
hoben. Durch die Vermittlung von Dr. P.
Guthörl kam er in das Konservatoramt und
damit in die staatliche Altertumssammlung
des Saarlandes. Der Faustkeil von Ludweiler
(Abb. 1) ist ein Gerät aus Stein, das der
Mensch der älteren Steinzeit bequem mit der
Hand fassen, mit dem er graben, schneiden,
schlagen, schaben und spalten konnte. Also
ein Universalgerät, gemacht von einem ge
übten Steinschläger. Denn kunstfertig ge
schlagen ist der Keil aus einer rohen Knolle
von hartem, sprödem Hornstein. So sehen
wir ihn vor uns, schön, mandelförmig, 22 cm
lang, ohne jeglichen Steinschliff, die Ober
fläche bedeckt mit muscheligen Schlagflä
chen, nur an den scharfen Rändern beson
ders fein zugeschlagen, man sagt retuschiert.
Obwohl die Herstellung durch Menschen
hand schon aus der Gestalt und Bearbeitung
klar ersichtlich ist, könnte jemand einwen
den: „so etwas könnte doch in der Natur
auch Vorkommen, etwa als Zufallsform, wie
sie hier und dort natürlich entsteht“. Um
diese Meinung von vornherein richtigzu
stellen, muß ich erklären, daß es sich um
eine typische Form handelt. Das heißt, es ist
ein Gerät, das in dieser mandelförmigen Ge
stalt und mit der in Schlagtechnik ausge
führten Oberfläche und der feineren Rand
retusche nicht einzig dasteht, sondern das
man von vielen anderen Funden Europas her
in derselben Ausführung kennt. Durch Spe
zialisten, die sich eingehend mit der älteren
Steinzeit befassen, sind ganze Entwicklungs
reihen solcher Typen aufgestellt worden. Wir
sind dadurch sehr genau über die Formen
der einzelnen Werkzeuge und Waffen des
Eiszeitmenschen unterrichtet. Aus der Form
und Bearbeitung können wir die Entwick
lungsstufe und damit das ungefähre Alter
des Fundes ablesen. Die Untersuchung und
Auswertung der Formen oder Typen hat zur
Ausbildung einer besonderen Methode der
Archäologie geführt; wir nennen sie Typolo
gie. Jedoch davon später. Zunächst müssen
wir uns klar vorstellen, daß der Faustkeil
von Ludweiler ein paläolithisches
Gerät ist, das von Menschenhand
verfertigt und zum praktischen
Gebrauch durch den Eiszeitmen
schen bestimmt war.
Es gibt in den Urwäldern Südamerikas,
auf den Inseln der Südsee, in Afrika und
auch in arktischen Gebieten Völker, die
heute noch im Zustande der Steinzeit ohne
jegliche Kenntnis des Metalls leben. Für den
Archäologen ist es daher außerordentlich
nützlich, wenn er sich mit den Arbeiten der
Ethnologie (= Völkerkunde) bekannt macht
und solche Steinzeitvölker studiert. Vieles
kann er von ihnen lernen. Vor allem, wie
Steinwerkzeuge hergestellt werden (Abb. 2),
wie sie der Mensch gebraucht und wozu er
sie gebraucht. Wir fanden Geräte, von wel
chen wir uns nicht denken konnten, was sie
sein sollten und welchem Zweck sie gedient
hatten. Heute wissen wir das alles, wir haben
es jenen Eingeborenen abgesehen und von
ihnen gelernt. Wir haben jetzt sogar Spezia
listen, die aus rohen Feuersteinknollen ge
nau dieselben Geräte durch Schlag und
Druck herstellen können, wie wir sie von
Abb. 2: Indianer sprengt Späne vom Werkstück
durch Druck (nach Jacob-Friesen, Ein
führung in Nieder Sachsens Urgeschichte)
den Funden kennen (Abb. 3). Jedoch, das
sind wenige Fachleute. Uns allen ist die fein
fühlige Geschicklichkeit eines solchen Hand
werks völlig verloren gegangen. Der Mensch
der älteren Steinzeit besaß diese Fähigkeit
bis zur vollendeten Meisterschaft.
Wann lebte dieser Mensch, wann ist der
Faustkeil entstanden? Bei der Frage nach
dem Alter des Fundes von Ludweiler müs
sen wir wissen, daß wir nichts weiter zur
Beurteilung haben, als das Steingerät selbst.
Bestenfalls gibt uns die Lehmschicht, welche