Full text: 1948 (0076)

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Die Buchecker 
Von Alfred PETTO Herrensohr, 
E ines Tages im Spätsommer, als ein hef 
tiger Sturm wehte, spürten die beiden, wie 
ihr Häuslein zu wanken begann, und dann, 
während sie durch die Luft flogen, gab es 
einen leisen Knacks, das Licht stürzte über 
die beiden, sie drückten sich fest aneinander. 
Als sie dann wieder zur Besinnung kamen, 
lagen sie auf der Erde unten, auf einem 
großen Blatt, und sie standen gottlob noch 
dicht nebeneinander in ihrem seidegefütter 
ten Häuschen. 
Was nun aus ihnen werde, das wußten sie 
nicht. Die Sonne schien warm, es regnete 
und stürmte, und während der Nächte warf 
der wachsende Mond sein blasses Licht in 
die Blätter. Aber sie sahen, daß sie nicht 
allein waren. 
„Was soll nun aus uns werden?“ fragten 
sie die anderen. 
Und es erwies sich, daß keiner etwas Ge 
naues wußte. Der eine sagte, nichts werde 
mit ihnen, sie müßten ganz einfach hier lie 
gen bleiben und faulen. Ein anderer wollte 
wissen, daß aus jedem ein neuer Baum 
wüchse, ein Baum, so hoch und mächtig, wie 
der war, der sie in die Welt geworfen hatte. 
„Nein“, behauptete eine junge, pralle, sehr 
hübsche Buchecker, „dafür haben wir hier 
nicht zu liegen und zu warten, sondern es 
ist etwas ganz anderes!“ 
„Und was ist das?* fragten sie neugierig. 
„Ihr werdet es schon noch erleben“, sagte 
die junge Hübsche und war ganz geschwollen 
vor Geheimnis. 
Aber es mußte, nach ihrer Miene zu schlie 
ßen, etwas sehr Schönes sein, so daß sich 
alle im Herzen freuten und nicht warten 
konnten, bis das große Ereignis käme. 
Und es kam auch. Eines Abends raschelte 
es im Laub, und eine Spitzmaus packte die 
Zwillingsschwester der Buckecker in dem 
seidegefütterten Häuschen und trug sie fort. 
Und dann raschelte es wieder, und die Spitz 
maus trug eine andere fort. 
„Ist es das?* fragten sie die junge Hübsche. 
„O Gott nein!“ erwiderte sie und schüttelte 
sich vor Abscheu. „Die wäre die letzte, von 
der ich mich nehmen ließe!“ 
Die anderen sahen sie verwundert an. Soso, 
meinten sie, dann sei es also wohl, daß man 
weder faule, noch ein großer Baum werde, 
sondern daß man genommen werde. 
„Wer aber wird kommen und uns nehmen?“ 
Die junge Hübsche blickte schwärmerisch 
ln die Höhe. „Er!“ sagte sie nur mit leiser, 
vor Wonne vergehender Stimme. 
Und es gingen nun ein paar Tage hin, 
ohne daß Er kam und sie mitnahm. Der Wind 
fegte das Laub von den Ästen, die Nächte 
wurden kühler, und in einer Frostnacht ge 
schah es, daß sich die tausend seidegefütter 
ten Häuschen von den Zweigen lösten und 
zur Erde regneten. 
Die junge Hübsche lag noch immer prall 
und glänzend vor Schönheit auf dem frischen 
grünen Blatt einer Feigwurz. Sie wartete. 
Aber die Zwillingsschwester war immer tie 
fer ins Laub gefallen; es war so dunkel um 
sie her, nur ein ganz dünner Lichtstrahl traf 
sie noch. Sie war schon ganz grau geworden, 
und widerliche Flecken verunzierten ihr Ge 
sicht. 
Aber sie war von einer unverwüstlichen 
inneren Natur. 
Sie sagte zu der eingebildeten Hübschen; 
„Wenn Er kommt, so wird Er ganz gewiß 
mich nehmen!“ 
Aber die Hübsche schwieg hochmütig. 
Die Graue fuhr fort; „Ich weiß es» ganz 
genau, daß Er mich nehmen wird!“ 
Dann kam Er. Es raschelte wieder im Laub, 
aber diesmal ganz anders, als es bei der 
Spitzmaus geraschelt hatte. 
„Jetzt!“ flüsterte die Graue in ihrem feuch 
ten Loch. „Oh, jetzt kommt Er und nimmt 
mich!“ 
Aber die Hand, die da immer näher kam 
und das dürre Laub fortscharrte, streckte 
ihre Finger nach der jungen Hübschen aus, 
die auf dem Blatt der Feigwurz lag, und 
warf sie zu vielen anderen in ein k’eines 
weißes Säckchen. Die Graue aber faßte er 
nur an, sie bebte bis ins Herz und schloß die 
Augen, doch dann fühlte sie, wie sie über 
die Blätter flog. Als sie wieder zur Besinnung 
kam, lag sie unter einer feuchten Erdkrume. 
Da brach sie in bittere Tränen aus. 
Hier aber blieb sie liegen. Der Winter ver 
ging. Es wurde dunkler und dunkler um sie. 
Aber einmal schlug sie die Augen auf, es 
war so hell und licht über ihr, und als sie 
an sich niederblickte, erkannte sie, daß sie 
eine ganz andere geworden war, jung und 
zart, viel hübscher als die eingebildete Buch 
ecker. 
„Oh“, flüsterte sie leise, „Ich werde ja ein 
Baum!“
	        
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