Full text: 1948 (0076)

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Mit einfältigen Kinderaugen versenkte sich 
der Maler in die Natur und entdeckte so in 
dem .alltäglichsten Motiv ungeahnte Schön 
heiten. Ein Bild wie der „Bergfried von 
Douai“ (Bild 6), das er im Alter von 79 Jah 
ren malte, könnte man für ein Jugendwerk 
halten. Sein Streben nach Vereinfachung 
übergeht die Einzelheiten dieser in Flucht 
linie gesehenen Straße, um nur noch die 
wesentlichen Dinge bestehen zu lassen. Diese 
beabsichtigte Einfachheit hätte aus diesem 
Gemälde eine einfache Skizze machen kön 
nen, hätte nicht Corot die Gabe, allem, was 
er schuf, eine verhaltene Bewegung mitzu 
teilen, die seine Kunst unnachahmlich macht. 
Zweiter Abschnitt: Der Realismus und der 
Impressionismus. 
Die Freude an der Romantik schwand in 
Frankreich schnell dahin. Von 1848 an wand 
ten sich die jungen französischen Künstler 
von ihr ab und verlangten von der Kunst 
mehr objektive Wahrheit. In der Malerei 
vollzog sich die gleiche Wandlung wie auf 
dem Gebiet des reinen Denkens. Der wissen 
schaftliche und philosophische Positivismus, 
der Vorbote der neuen Zeit, entstand in der 
selben Epoche. In der Malerei drückte sich 
dieser Wandel in Eingebung und Art (Tech 
nik) der Darstellung nach zwei Richtungen 
hin aus: im Realismus, der nach den über 
kommenen Mitteln der Darstellung soge 
nannte alltägliche Stoffe gestaltet, und im 
Impressionismus, der eine wahre Revolution 
in der bisher von den Malern angewandten 
Technik der Darstellung herbeiführte. 
Zu den Vorläufern der Realisten gehörten 
die Landschaftsmaler aus der sogenannten 
Gruppe von Barbizon *), die Bilder aus der 
Natur bis in die feinsten Einzelheiten malten 
und daher ^Realisten, aber zugleich auch 
Dichter wegen ihrer tiefen Liebe zur Natur 
waren, die sie dazu führte, die Landschafts 
malerei von Grund auf umzugestalten. Ihr 
Streben ging nicht mehr dahin, Landschaften 
darzustellen durch getreue Wiedergabe des 
sen, was die Natur an Schönheit und Groß 
artigkeit bietet, so wie es ihre Vorgänger 
getan hatten; sie wollten weniger die Wirk 
lichkeit darstellen, als ihrer Empfindung an 
gesichts der Natur Ausdruck verleihen. Da 
her verlor ihre Kunst nur allzu oft den Zu 
sammenhang mit der Natur. Dieser Mangel 
offenbart sich deutlich in einem sehr be 
* Barbizon ist ein Dorf in der Nähe des be 
rühmten Waldes von Fontainebleau bei Paris. 
kannten Bilde des bedeutendsten Künstlers 
dieses Kreises, Theodore ROUSSEAU, 
einem Bilde, das den Titel trägt- „Waldaus 
gang bei Fontainebleau“ (Bild 7). Das Licht 
ist künstlich, der Aufbau theatermäßig, die 
Bäume spielen eine lediglich dekorative 
Rolle, und der im Schatten verborgeine und 
mehr skizzenhaft behandelte Vordergrund 
lenkt die Aufmerksamkeit allzusehr auf den 
Hintergrund, auf dem das Hauptinteresse 
ruht. Waren auch die Maler dieser Gruppe 
von Barbizon echte Künstler, so bleiben sie 
jedoch unstreitig hinter Corot zurück, des 
sen Empfindungskraft verhalten und ver 
borgen blieb, weil sie nicht gewollt und nicht 
aufdringlich war. 
Der im Jahre 1808 geborene Maler DAU- 
MIER ist der Zeit nach der erste, den man 
mit dem üblichen Namen eines Realisten 
bezeichnet. Wenn er auch vor der Epoche, 
die das Ende der Romantik und den Auf 
stieg der modernen Kunst erlebte, das Man 
nesalter erreicht hatte, so trägt doch sein 
Werk keine Spur von Romantik. Seine Lauf 
bahn begann er als politischer Karikatu 
renmaler, und er wandte sich der Malerei 
erst dann zu, als die rücksichtslose nach 1852 
von dem Regime Napoleons III. eingerichtete 
Zensur ihm diese Tätigkeit untersagt hatte. 
Indem er unablässig bestimmte volkstüm 
liche Stoffe ausbeutete, hat Daumier das 
Leben der Bedrückten seiner Zeit unver 
gänglich gemacht. Eines seiner bekanntesten 
Werke trägt den Titel „Im Waggon 3. Klasse“ 
(Bild 8). Ohne Mühe kann man erraten, daß 
sein Schöpfer Karikaturenmaler war. Die 
Zeichnung wahrt allein den charakteristi 
schen Zug in der Form, die er fest umreißt, 
jedoch suggestiv gestaltet. Um seinen Ge 
stalten erhöhte Ausdruckskraft zu verleihen, 
bedient sich Daumier stets einer kontra 
stierenden Beleuchtung, sei es, daß er sie im 
Gegenlicht sich abheben oder sie aus dem 
Dunkel auftauchen läßt. Daumier ist jedoch 
mehr als bloßer Realist. Er umhaucht sie 
selbst mit dem Duft der Poesie durch das 
tiefe Verständnis, das er für das Mensch 
liche besaß, mochte es sich auch unter den 
einfachsten und vertrautesten äußeren For 
men verbergen. Daumier starb arm und 
verkannt trotz einiger volkstümlicher Er 
folge. Es war ein unverdientes Schicksal für 
einen Mann, der dank der Eindruckskraft 
seiner Zeichnung ohne Übertreibung einen 
Vergleich mit Michel-Angelo wohl zuließ.
	        
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