Full text: 1948 (0076)

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der die nötigen „Fressalien“, auch Bleistift 
und Papier beherbergt; denn ohne die letz 
teren hat Heine wohl nur selten eine Reise 
gemacht. Anmut geht von ihm aus. Er be 
rührt einen angenehm. Manchmal blitzen seine 
Augen eigentümlich auf; da hat er gerade 
einen sonnenhellen Witz gedacht, eine treff 
sichere Satire gefunden. Manchmal leuchten 
diese Augen voller Schwermut; dann ist ihm 
seine unglückliche Liebe eingefallen. Er macht 
Rast, setzt sich an den Waldrand und schreibt. 
Immer hält er sofort fest, was ihm Phantasie 
und Gemüt schenken. Das hat er uns selbst 
gesagt: 
Wenn die Stunde kommt, wo das Herz mir 
schwillt, 
und blühender Zauber dem Busen entquillt, 
dann greif ich zum Griffel rasch und wild 
und male mit Worten das Zaubergebild. 
Jeder Schmerz, jede Freude ist so unmittelbar 
in die goldene Form seiner Lieder hinein 
geträufelt; und deshalb hat deren Wirkung 
nicht nachgelassen bis auf den heutigen Tag. 
Es geht dem Abend zu. Die ersten Sterne 
strahlen. Der Dichter findet ein Gasthaus, 
tritt ein, labt sich und geht gleich auf sein 
Zimmer. Durch das geöffnete Fenster hört er 
das Rauschen des Waldes, sieht die Sterne 
und findet wundersame Verse: 
Sterne mit den goldnen Füßchen 
wandeln droben bang und sacht, 
daß sie nicht die Erde wecken, 
die da schläft im Schoß der Nacht. 
Horchend stehn die stummen Wälder, 
jedes Blatt ein grünes Ohr! 
Und der Berg, wie träumend streckt er 
seinen Schattenarm hervor. 
Doch was rief dort? In mein Herze 
dringt der Töne Widerhall. 
War es der Geliebten Stimme 
oder nur die Nachtigall? 
Vor einer armseligen Ölfunsel schreibt er sie 
auf. Die Examensnöte sind vergessen. Und er 
schreibt noch weiter, als die Zimmeruhr 
schon zwölfmal hintereinander , .Kuckuck“ 
ruft. Und immer hört er die Nachtigall singen. 
Der Siebenundzwanzig jährige ist jetzt wie 
ein Kind, so aufgeschlossen für all das 
Schöne, das ihn umgibt. Als der Morgen däm 
mert, ist jener Teil der Harzreise fertig, der 
vom Befahren der Clausthaler Gruben „Doro 
thea“ und „Karolina“ handelt. Wie liebevoll 
hat er in diesem Buche von dem Bergmanns 
stande gesprochen! Und was für liebliche Ge 
dichte hat er in seine Schilderungen hinein 
gewebt: 
Auf dem Berge steht die Hütte, 
wo der alte Bergmann wohnt; 
dorten rauscht die grüne Tanne 
und erglänzt der goldne Mond. 
In der Hütte steht ein Lehnstuhl, 
reich geschnitzt und wunderlich, 
der darauf sitzt, der ist glücklich, 
und der glückliche bin ich. 
Auf dem Schemel sitzt die Kleine, 
stützt den Arm auf meinen Schoß! 
Äuglein wie zwei blaue Sterne. 
Mündlein wie die Purpurros’. 
Welch ein Einfühlungsvermögen in die Kin 
derseele verraten diese Strophen: 
Plötzlich schweigt die liebe Kleine, 
wie vom eigenen Wort erschreckt, 
und sie hat mit beiden Händchen 
ihre Äugelein bedeckt. 
Nun schildert uns das Gedicht, wie draußen 
die Tanne rauscht, der Sturm tobt, das 
Spinnrad schnurrt, die Zither klingt. Und der 
Dichter tröstet das Bergmannskind: 
Fürcht dich nicht, du liebes Kindchen 
vor der bösen Geister Macht! 
Tag und Nacht, du liebes Kindchen, 
halten Englein bei dir Wacht .... 
Am andern Morgen fragt der vorwitzige Wirt 
den Dichter, wer er sei, woher er komme, 
wohin er wolle. ,.Ei“, erwidert der Gutge 
launte „ich heiße Peregrinus, reise im Auftrag 
des Sultans und werbe Rekruten. Haben Sie 
Lust. . .,“ Da streicht der Wirt das Zehrgeld 
ein und Heine wandert fürbaß. 
Irgendwer hat Heines Lyrik mit einem 
blühenden Rosengarten verglichen. Und wirk 
lich, Rosen des Geistes und des Gemüts 
blühen in den Gedichten: Weiße mit sammet- 
artieen Blättern aus Deutschland, rote aus 
Frankreich, aufgeblüht in der Gesättigtheit 
südlicher Provinzen, farbenprächtige aus 
Italien. 
Aber er hat nicht allein für das deutsche 
Herz gedichtet. Sein Herzschlag gehörte der 
Menschheit. Deshalb finden seine Lieder auch 
bei allen Völkern Liebe und Verständnis. Die 
^ Japaner z. B. erkennen zwar Goethes über 
ragende Größe an, aber er ist ihnen zu 
erhaben. Seine Abgeklärtheit wirkt erkältend 
auf sie, deren Dichtung von ganz andern Ge 
sichtspunkten ausgeht als die europäische. 
Dagegen Heines leise verhaltener Ton, seine 
zarte Sentimentalität sind ihren Seelen etwas 
Vertrautes; seine Ironie findet Widerhall in 
ihrem Geistesleben. „Heine“, so schrieb der 
Übersetzer Suiematsu Kenchio „ist der ein 
zige europäische Lyriker, den wir ganz ver 
stehen können. Seine innige Liebe zu den 
Blumen berührt uns angenehm; seine Lieder 
an die Vögel singen wir gerne mit. Seine 
Dichtung ist zeitlos.“ 
Ein gerades und sicheres Urteil ist das. So 
fühlen Fremde! Und wir, denen er gehört, 
sollten ihm unsere Liebe verweigern? 
Wir kleinen Leute lieben das Gefühl, das 
mit uns auf du und du steht. Dieses Gefühl 
schenkt er uns. Wir wollen es dankbar an 
nehmen. Wer sich in einer stillen Stunde in 
Heines Gedichte versenkt, wird gewahr wer 
den, wie er von dem Dichter verwandelt wird. 
Wir weinen mit, wenn ihm die Tränen kom 
men. Wir jubeln, wenn er sein perlendes 
Lachen jauchzt. Wir schlepoen uns mit ihm 
über die öden Steppen der Verzweiflung und 
tanzen mit ihm über Blumenwiesen der Freude. 
Wir trauern mit ihm in den Buchten der un 
glücklichen Liebe und schwärmen mit ihm 
durch die Oasen der Erfüllung. Er kann nicht 
lügen, wie manche es ihm nachsagen wollen. 
Alles sagt er so heraus, wie er es empfindet, 
rücksichtslos, ein wenig selbstgefällig, aber
	        
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