Full text: 72.1944 (0072)

Der Schatz der Zwerge 
Ein Hunsrückraärchen von Otto Bolz 
Es war einmal ein armer Schieferbrecher, 
der wohnte mit seiner fleißigen Frau und 
seinen zwei braven Kindern, dem Peter und 
der Liesel, drunten im Dorf nicht weit vom 
Bach. 
Er hatte schon zweimal sein Glück ver¬ 
sucht und nach Schiefer gegraben, aber nur 
armselig Gestein und tiefste Enttäuschung 
waren sein Lohn. An einem schönen Som¬ 
mertage, als die Mutter fortgegangen war, 
um Futter für die Geißen zu suchen, mach¬ 
ten sich die beiden Kinder auf den Weg, um 
droben im Walde Himbeeren zu suchen. Ihre 
blanken Eimerchen blinkten in der Sonne 
und in ihren Herzen lag eine große, stille 
Vorfreude. Die Mutter sollte sich mächtig 
wundern, wenn sie heimkamen, und die 
Eimerchen waren voll bis oben hin. 
Der Wald winkte und grüßte und endlich 
nahm er die beiden auf und umfing sie mit 
seiner köstlichen Kühle und seinem tiefen 
Frieden. Als der zehnjährige Bub mit seinem 
etwas jüngeren Schwesterlein auf einem lau¬ 
schigen Wege dahinging, fing das Mädel an 
zu fragen: „Peter, gelt, hier ist auch das Rot¬ 
käppchen einmal gegangen?“ „Kann sein, 
Gretel.“ „Peter, lebt denn die alte Großmut¬ 
ter noch?“ „Ich glaube nicht.“ „Peter, gelt, 
hier in dem Walde ist kein böser Wolf mehr?“ 
„Nein Gretelein.“ 
Da war das kleine Mädchen zufrieden und 
die beiden gingen immer tiefer in den Mär¬ 
chenwald hinein. 
Aber immer noch fanden sie keine Him¬ 
beeren und Sorge kam in ihre Herzen. 
Da auf einmal sahen sie eine Frau, eine 
alte Frau, mit einem gütigen Gesicht und 
klugen Augen. Freundlich rief sie die Kinder 
und zeigte ihnen, wo die schönsten Himbeeren 
standen. Ja, sie half ihnen sogar beim Pflük- 
ken und im Nu waren die Eimerchen voll. 
Da machten sich die drei auf den Heim¬ 
weg und die alte Frau, die niemand anderes 
als die Waldfee war, fragte die Kinder nach 
diesem und jenem, nach Vater und Mutter 
und nach all den Dingen in ihrem kleinen 
Kinderleben. 
Die Kinder tauten bald auf und gewannen 
ein tiefes Vertrauen zu diesem guten Gro߬ 
mütterchen. 
Vor dem Walde an einem großen Hügel 
machten sie halt. Auf diesem lag ein ge¬ 
waltiger Steinblock und hohe Wacholder- 
sträucher hielten ringsum Wache. Hier setzte 
sich die Alte mit den Kindern und erzählte 
ihnen, daß hier in diesem Hünengrab ein 
Fürst aus alter Zeit liegen würde, der vor 
tausend und mehr Jahren einmal mächtig 
und reich gewesen sei. 
Der Peter und die Liesel schauten ganz an¬ 
dächtig und ehrfürchtig auf den Hügel und 
den Stein. 
Die Sonne meinte es gut. Zwei Schmetter¬ 
linge haschten sich, und ein Hummelchen 
machte vergnügt ein Bummelchen. Immer 
schwerer wurden die Augen der Kinder und 
immer schöner die Welt. Und was sahen sie 
da? Sie kamen aus dem Staunen nicht her¬ 
aus. Zwerge, viele freundliche Zwerge sahen 
sie, die kamen hinter den Wacholdern her¬ 
vor und umringten das Hünengrab. Dann 
hüben sie an zu sprechen, langsam und ganz 
feierlich: 
„Wir sind die Zwerge vom Koppenstein, 
wir kommen still im Mondenschein 
und dienen dem König der Zwerge. 
Wir lohnen die Guten, wir lohnen dgn 
[Schweiß 
wir hüten mit Liebe, mit Sorgfalt und 
[Fleiß 
die köstlichen Schätze der Berge.“ 
Und dann kam ein etwas größerer Zwerg 
hervor, der hatte ein funkelndes Krönlein 
auf dem Haupt. Er ging gemessenen Schrit¬ 
tes auf den großen Stein und fing so an zu 
sprechen: 
„Ich bin der König vom Koppenstein. 
Hier zwischen Wacholdern, hier hinter 
[dem Stein, 
da liegt ein Schatz verborgen. 
Ihr könnt ihn heben, und hebt ihr ihn 
[gleich, 
so werdet ihr glücklich und werdet ihr 
[reich, 
und weg sind all eure Sorgen.“ 
Die Kinder kamen aus dem Staunen und 
Wundern nicht heraus. Doch als sie ihre 
Augen aufmachten, da sahen sie keine Wald¬ 
fee mehr und auch keine Zwerge. Dann aber, 
nach einer geraumen Weile, da liefen sie den 
Berg hinunter, um den Eltern so schnell wie 
möglich die wunderbare Geschichte zu er¬ 
zählen. 
Wohl hüpften ein paar Himbeeren voller 
Freude aus den Eimerchen heraus. Das machte 
aber nichts. Was würden die Eltern zu all 
dem sagen? Die Mutter schüttelte den Kopf 
und meinte: „Träume sind Schäume“. Der 
Vater aber lachte und sagte: „Das ist das 
Glück,' das große Glück, das einmal zu jedem 
Menschen kommt. Die Waldfee und die Zwerge 
meinen es gut mit uns. Wir wollen zupacken 
und uns durch Fleiß und Schweiß ihr Lob 
und ihren Lohn ehrlich verdienen.“ 
Und der Schieferbrecher packte zu. Schon 
am folgenden Tag ging er an die Arbeit. Das 
Hünengrab ließ er unversehrt. Aber hinter 
dem Stein, da grub und grub er, bis er am 
dritten Tage an den Schiefer kam. Es war 
prächtiger Schiefer, tief blauschwarz und 
ganz glänzend, wie er noch keinen gesehen 
hatte. Aus dem Stollen wurde eine große 
Schiefergrube und aus dem armen Schiefer¬ 
200
	        
Waiting...

Note to user

Dear user,

In response to current developments in the web technology used by the Goobi viewer, the software no longer supports your browser.

Please use one of the following browsers to display this page correctly.

Thank you.