Full text: 72.1944 (0072)

Die Prüfung 
Von Ralph Urban 
.;Ihre Zeugnisse sind gut, Fräulein Her¬ 
wig“, sagte der Chef zu der jungen Dame, 
die sich um die Stelle einer Stenotypistin 
bewarb. „Nun wollen wir noch sehen, was 
Sie wirklich können.“ 
Damit griff er nach dem Hörer des Tisch¬ 
telefons und beorderte den Leiter der 
Korrespondenzabteilung zu sich. 
„Diktieren Sie dem Fräulein ein Steno¬ 
gramm, Herr Rab“, empfing der Chef den 
Eintretenden, „und zwar einen der Ge¬ 
schäftsbriefe, die heute zu erledigen sind. 
Die Reinschrift möchte ich dann selbst 
sehen.“ 
Ein paar Minuten später saß Fräulein 
Herwig mit Block und Bleistift startbereit 
am Schreibtisch, während Herr Rab wie 
ein Löwe hinter Gittern auf und ab lief. 
„Herren A. Müller & Co.“, begann er zu 
diktieren. „Wir bestätigen hiermit Eingang 
Ihres Geschätzten vom achten dieses und 
wären grundsätzlich nicht abgeneigt, ge¬ 
gebenenfalls auf Ihr Angebot, welches Sie 
uns unterbreiteten, zurückzukommen, wenn 
Sie das uns seinerzeit durch Ihren Ver¬ 
treter mündlich vorgelegte Offert, wonach 
Sie uns bei Abnahme von fünfhundert 
Kilogramm Modellwachs Marke „Plastik“ 
einen Preis von RM. zwei fünfundfünfzig 
pro Kilogramm franko Haus in Aussicht 
stellten, auch bei einer Abnahme von nur 
zweihundertfünfzig Kilogramm aufrecht zu 
erhalten in der Lage wären und nicht den 
in Ihrem geschätzten Schreiben vom achten 
dieses geforderten Kilogrammpreis von 
RM. zwei achtundfünfzig bei einer Ab¬ 
nahme von zweihundertfünfzig Kilogramm 
beibehalten würden.“ 
Herr Rab wischte sich den Schweiß von 
der Stirne, holte tief Atem und begann den 
zweiten Satz: „Im Falle Sie bereit wären, 
uns unter den eingangs erwähnten Bedin¬ 
gungen —“ Herr Rab verschwand im La¬ 
byrinth der Schachtelsätze, um nach fünf 
Minuten mit dem Zeitwort im Mund glück¬ 
lich aufzutauchen. 
Fräulein Herwig setzte sich zur Schreib¬ 
maschine, warf noch einen Blick auf den 
Stenogramm-Block und schrieb innerhalb 
einer Minute folgenden Brief: 
„Herren 
A. Müller & Co. 
Wir bestätigen den Erhalt Ihres ge¬ 
schätzten Schreibens vom 8. d. M. 
Wenn Sie in der Lage sind, uns 250 Kilo¬ 
gramm Modellwachs Marke „Plastik“ zum 
Preis von RM. 2.55 das Kilogramm franko 
Haus zu liefern, dann können Sie mit dem 
Auftrag rechnen. Ein höherer Preis käme 
nicht in Frage. 
Wir erwarten Ihren sofortigen Bescheid 
und zeichnen mit —“ 
„Was?“ brüllte Herr Rab, als er den 
Brief gelesen hatte. „Und dazu habe ich 
eine halbe Stunde lang diktiert? Sie kön¬ 
nen wohl gar nicht stenographieren?“ 
„Doch,“ sagte Fräulein Herwig und be¬ 
gann das Stenogramm wortwörtlich vor¬ 
zulesen. Der Chef, der eben ins Zimmer 
kam, blieb bei der Tür stehen und hörte 
zu. Dann nahm er den Briefbogen zur 
Hand und überflog die Zeilen. 
„Wie können Sie sich erlauben, einfach 
zu schreiben, was Ihnen paßt?“ fuhr Herr 
Rab die junge Dame an und wurde ange¬ 
sichts des Chefs um einen Kopf größer. 
„Ich erlaubte mir nur,“ sagte Fräulein 
Herwig schlicht, „Ihnen Zeit zu ersparen. 
Und außerdem halte ich es für heilige 
Pflicht, meine Muttersprache vor Ver¬ 
gewaltigung Zu schützen.“ 
„Bravo!“ sprach der Chef. „Sie sind an¬ 
gestellt, Fräulein Herwig!“ 
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