Die Prüfung
Von Ralph Urban
.;Ihre Zeugnisse sind gut, Fräulein Her¬
wig“, sagte der Chef zu der jungen Dame,
die sich um die Stelle einer Stenotypistin
bewarb. „Nun wollen wir noch sehen, was
Sie wirklich können.“
Damit griff er nach dem Hörer des Tisch¬
telefons und beorderte den Leiter der
Korrespondenzabteilung zu sich.
„Diktieren Sie dem Fräulein ein Steno¬
gramm, Herr Rab“, empfing der Chef den
Eintretenden, „und zwar einen der Ge¬
schäftsbriefe, die heute zu erledigen sind.
Die Reinschrift möchte ich dann selbst
sehen.“
Ein paar Minuten später saß Fräulein
Herwig mit Block und Bleistift startbereit
am Schreibtisch, während Herr Rab wie
ein Löwe hinter Gittern auf und ab lief.
„Herren A. Müller & Co.“, begann er zu
diktieren. „Wir bestätigen hiermit Eingang
Ihres Geschätzten vom achten dieses und
wären grundsätzlich nicht abgeneigt, ge¬
gebenenfalls auf Ihr Angebot, welches Sie
uns unterbreiteten, zurückzukommen, wenn
Sie das uns seinerzeit durch Ihren Ver¬
treter mündlich vorgelegte Offert, wonach
Sie uns bei Abnahme von fünfhundert
Kilogramm Modellwachs Marke „Plastik“
einen Preis von RM. zwei fünfundfünfzig
pro Kilogramm franko Haus in Aussicht
stellten, auch bei einer Abnahme von nur
zweihundertfünfzig Kilogramm aufrecht zu
erhalten in der Lage wären und nicht den
in Ihrem geschätzten Schreiben vom achten
dieses geforderten Kilogrammpreis von
RM. zwei achtundfünfzig bei einer Ab¬
nahme von zweihundertfünfzig Kilogramm
beibehalten würden.“
Herr Rab wischte sich den Schweiß von
der Stirne, holte tief Atem und begann den
zweiten Satz: „Im Falle Sie bereit wären,
uns unter den eingangs erwähnten Bedin¬
gungen —“ Herr Rab verschwand im La¬
byrinth der Schachtelsätze, um nach fünf
Minuten mit dem Zeitwort im Mund glück¬
lich aufzutauchen.
Fräulein Herwig setzte sich zur Schreib¬
maschine, warf noch einen Blick auf den
Stenogramm-Block und schrieb innerhalb
einer Minute folgenden Brief:
„Herren
A. Müller & Co.
Wir bestätigen den Erhalt Ihres ge¬
schätzten Schreibens vom 8. d. M.
Wenn Sie in der Lage sind, uns 250 Kilo¬
gramm Modellwachs Marke „Plastik“ zum
Preis von RM. 2.55 das Kilogramm franko
Haus zu liefern, dann können Sie mit dem
Auftrag rechnen. Ein höherer Preis käme
nicht in Frage.
Wir erwarten Ihren sofortigen Bescheid
und zeichnen mit —“
„Was?“ brüllte Herr Rab, als er den
Brief gelesen hatte. „Und dazu habe ich
eine halbe Stunde lang diktiert? Sie kön¬
nen wohl gar nicht stenographieren?“
„Doch,“ sagte Fräulein Herwig und be¬
gann das Stenogramm wortwörtlich vor¬
zulesen. Der Chef, der eben ins Zimmer
kam, blieb bei der Tür stehen und hörte
zu. Dann nahm er den Briefbogen zur
Hand und überflog die Zeilen.
„Wie können Sie sich erlauben, einfach
zu schreiben, was Ihnen paßt?“ fuhr Herr
Rab die junge Dame an und wurde ange¬
sichts des Chefs um einen Kopf größer.
„Ich erlaubte mir nur,“ sagte Fräulein
Herwig schlicht, „Ihnen Zeit zu ersparen.
Und außerdem halte ich es für heilige
Pflicht, meine Muttersprache vor Ver¬
gewaltigung Zu schützen.“
„Bravo!“ sprach der Chef. „Sie sind an¬
gestellt, Fräulein Herwig!“
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