Von Herrrann Stahl
Johannes kehrt heim
Ruhig kam Johannes vom Feld heim zum
Feierabend, er saß allein auf dem Wagen,
der Vater war schon vorausgegangen, und
Johannes hatte nicht Eile. Er fuhr in den
Hof, spannte die Kühe aus, trieb sie in den
Stall, er wollte noch eben die Geschirre weg¬
hängen, da kam die Mutter gelaufen, ver¬
weint, hastig, und faßte den Sohn an der
Schulter und sagte: „Wenn du das Geld
hast, Johannes, dann sag es rasch, gib es
her, es ist noch Zeit, der Vater sucht noch."
Ja, ein Goldstück fehlte im Kasten, und nie¬
mand außer Johannes hatte gesehen, wie
der Vater den Kasten unverschlossen am
Abend zuvor in den Schrank gestellt hatte,
und morgen war Markt in der Stadt, und
mußte Johannes das Stück nicht an sich ge¬
nommen haben? Johannes lachte, sah dann
die Mutier zornig an, ließ sie stehen und
ging in das Haus. „Du suchst ein Goldstück",
sagte er zum Vater, — „ich habe es nicht.
Oder glaubst du mir nicht?" Der Vater sah
ihn nicht an. „Ich weiß, daß es im Kasten
war", erwiderte er. „Soll ich es genommen
haben?" fragte der Sohn, und der Vater
antwortete jähzornig: „Ich weiß, daß es im
Kasten war, und du warft dabei, als ich das
Geld zählte!" Dem Sohn verschlugs die
Sprache, er ging aus der Stube.
Alles war wie sonst, die Dorfuhr schlug
die Stunde, nichts Besonderes war. Die
Schicksale begleiten die Menschen von ihrer
ersten Stunde an. die Schicksale vollziehen
sich in der Stille, unerkannt, unzugänglich
im Geheimnis. Als der Vater am frühen
Morgen für den Stadtgang sich rüstete und
dabei das Goldstück fand, und es lag von
ihm selbst versteckt an einem vergessenen
Platz, und als er in jäher Beschämung dem
Sohn die Kunde bringen wollte, war Jo¬
hannes verschwunden.
Man wartete bang durch Tage hin, man
suchte und fahndete schließlich, der Sohn
blieb verschollen. Alles war wie früher, die
Geschwister wuchsen heran, ihr Leben er¬
füllte das Haus, fast vergaßen sie den Ent¬
laufenen, man sprach nicht von ihm. Nur
die Eltern saßen manchmal an den Abenden
beisammen, zu sagen war nichts mehr,
schweigend grübelten sie über das Unbegreif¬
liche nach. Der Zorn über den Abtrünnigen
war längst verraucht, stumpfer geworden
war die Trauer, nur manchmal, seltener mit
den Jahren, geschah es, daß die Mutter von
ihrem Sohn träumte in den Nächten, und
daß sie verweint in den Tag sah und doch
neu belebt von einem Wissen, ihr Sohn
lebe. Und der Vater mühte dann von neuem
sich mit dem Gedanken, durch seine Schroff¬
heit den Sohn in die Unvernunft der kna¬
benhaften Flucht getrieben zu haben.
Als der Krieg begann, belebte sich neu die
Hoffnung der Alten, den Sohn von der Ge¬
walt dieses Geschehens wieder in die Heimat
zurückgetrieben zu sehen, und in einer Nacht,
da die wehrfähigen Männer des Dorfes
singend im Wirtshaus den Abschied feierten,
sagte der Vater im Schutz des Dunkels zum
schlaflos liegenden Weib: „Du meinst und
glaubst, daß er lebt. Aber ich wollte lieber,
daß er falle, wenn er nur vorher noch ein¬
mal heimkäme." Im Wirtshaus sangen die
Männer, deren Heimkehr so ungewiß war,
und die Mutter hörte den Gesang in ihrer
Kammer und weinte, aber ihre Tränen gal¬
ten dem einen, der außerhalb des gesetz¬
haften Kreises stand.
Der aber, der geringe Schuld mit schwe¬
rerer vergalt, der Sohn in der Fremde, der
Not und tiefere Demütigungen hatte erfah¬
ren müssen in bitteren Jahren, zog auch
hinaus. Ach, er wäre gern zuvor noch ein¬
mal heimgekehrt, aber ihn hemmte Scham.
Er hatte längst eingesehen, daß seine Flucht
töricht gewesen war, ihm selber fast unbe¬
greiflich nach diesen Jahren, aber um so
schwerer schien ihm das Heimkehren. Und
zu schreiben wußte er nichts. Die Jahre des
Krieges machten sein Schicksal vor ihm sel¬
ber gering. Er wurde verwundet, Monate
lang lag er in einem Lazarett. Er sah, wie
Kameraden Besuch erhielten, sah sie Briefe
und Pakete empfangen und sah auch oft die
Freude derer, die einen Heimaturlaub an¬
treten konnten, nur er, so sagte er sich, hatte
das alles verscherzt, er war heimatlos.
Er kehrte zurück aus dem Krieg, er ging
in eine Stadt. Nach mancher Not fand er
einen bescheidenen, festen Platz in der Welt,
er wurde Pfleger in einem Spital. Man
schätzte ihn seiner Treue wegen und seines
Fleißes, aber man liebte ihn nicht, er war
verschlossen, ernst, Freundschaften ging er
aus dem Weg. Von seinen Kollegen hielten
ihn etliche für einen Streber, weil er in sei¬
ner Freizeit medizinische Bücher las, und sie
ahnten nicht, daß er als ein Entwurzelter
inbrünstig eine neue Lebensheimat sich zu
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