Full text: 67.1939 (0067)

Weihnachtsabend eines Kriegsgefangenen 
Von Hauer Fritz Sick, Grube König 
Als deutscher Arbeiter verdiene ich mein Brot 
als Bergmann auf einer unserer Saargruben. 
An den langen Winterabenden, besonders in 
der Adventszeit, bitten mich meine beiden Mäd¬ 
chen des öftern, ihnen doch einmal etwas vom 
Weltkrieg oder aus der Gefangenschaft in Eng¬ 
land zu erzählen. Alle Einwände nutzen nichts, 
erzählen mutz ich doch. Und es geht wirklich ganz 
gut beim traulichen Schein unseres Advents¬ 
kranzes. 
Fünfter Weihnachtsabend in Feindesland. 
Kriegsgefangen in England. Am 24. Dezember, 
dem Tag vor dem Feste, ertönt die Sirene der 
Fabrik in Schottland, in der wir Kriegsgefan¬ 
gene arbeiten, eine Stunde früher zum Beginn 
der Arbeit. Der wachhabende englische Offizier 
gibt bekannt, datz der „Prissoner of war S. 
Nr. 11232" zurückbleibt und zum Zahnarzt nach 
Jnverkeithing zur Behandlung geht. Man hatte 
mir bei meiner Gefangennahme in Flandern an 
einem Maschinengewehr den Kovf übel zuge¬ 
richtet. Fast alle Zähne hatte ich dabei verloren. 
Nachdem der Kopf in einem englischen Lazarett 
bei Manchester wieder zusammengeklaubt war. 
sollte ich nun heute mein Ersatz-Kauwerk aus 
der Stadt abholen. Auch ein Weihnachtsgeschenk, 
das noch den Vorzug hatte, einen stets an die 
Vergänglichkeit alles Menschlichen zu erinnern. 
Der englische Wachtposten marschiert mit auf¬ 
gepflanztem Seitengewehr neben mir, er beglei¬ 
tet mich sogar ins Sprechzimmer des Zahn¬ 
arztes. Der Zahnarzt, ein menschenfreundlicher 
Mann, freut sich nicht weniger als ich selbst, 
datz das Ersatzstück so gut geraten ist und vor¬ 
züglich patzt. Er bittet mich um ein Souvernir 
(Andenken) und bedeutet mir, datz er etwas zum 
Christfest in meinen Mantel und Mütze gesteckt 
habe. Auf eine gutgelungene Photographie, das 
einzige das ich hatte, schrieb ich meine Heimat¬ 
adresse und schenkte sie ihm. Mit einem wohl¬ 
gemeinten Händedruck verabschiedete mich der 
Zahnkünstler. Auf der Straße blieb eine gut¬ 
gekleidete Dame vor mir stehen, spukte mich an 
und fauchte: „Bleddi focking Germany Prisso¬ 
ner!" Schade, datz ich meine Meinung über 
unsere englischen Vettern, wenigstens über einen 
Teil derselben, wieder ändern mutzte. Und doch 
fühlte ich in den Taschen meines Mantels einige 
Schachteln Zigaretten, Gebäck und Schokolade. 
Im Lager wieder angekommen, sollte ich bis 
zur Rückkehr der Kameraden von der Arbeit den 
Raum zu unserer Weihnachtsfeier herrichten. 
Zunächst schleppte ich alle Tische zusammen zu 
einer Bühne. Der kleine Raum, der noch ver¬ 
blieb, wurde mit Bänken ausgefüllt. Alle meine 
Bitten um einen Weihnachtsbaum wurden vor. 
dem englischen Lagerkommandanten mit der 
Bemerkung abgetan: „Ihr Deutsche seid doch 
wie kleine Kinder, warum denn noch ein Bäum¬ 
chen mit buntem Firlefanz." Das Klavier aus 
der englischen Kantine durfte ich mit dem 
Kamerad aus der Küche in unsere Baracke schaf¬ 
fen. Ein Weihnachtsbaum mutzte nun trotz der 
Ablehnung durch den Kommandanten doch her¬ 
bei, sonst machten die Kameraden bei ihrer 
Rückkehr enttäuschte Gesichter. Da fällt mir ein, 
datz meine Eltern dem letzten Paket ein Trans¬ 
parent, einen Weihnachtsbaum darstellend, bei¬ 
gelegt hatten. Behutsam falte ich es ausein¬ 
ander, glätte es und fertige einen Holzrahmen. 
Auf unserer Bühne wird es aufgestellt, dahinter 
ein paar Kerzen, und — — wir haben den 
schönsten Weihnachtsbaum. Die Kameraden 
kommen von der Arbeit, reinigen sich von dem 
Staube. Einige ziehen sogar ihre Uniform an. 
Der deutsche Koch hatte lange gespart, um heute 
abend Suppe mit etwas Hammelfleisch geben 
zu können. Unser Festraum füllt sich rasch. Da 
sitzt der junge Kriegsfreiwillige neben dem bär¬ 
tigen Landwehrmann, auf den in der Heimat 
Frau und Kinder harren. Alle im Herzen das 
gleiche Heimweh! Unwillkürlich vergleichen wir 
das Jetzt mit dem Einst, die heutige Weihnacht 
mit den Christfesten längst vergangener Zeiten. 
Einen englischen Geistlichen, der uns angeboten 
wurde, hatten wir abgelehnt. Was sollten wir 
mit ihm, wir waren doch lauter Deutsche, die 
in ihrer Muttersprache ihre Weihnacht haben 
wollten. Einer der Unseren spricht herrliche 
Worte, Worte der Pflichterfüllung gegen andere, 
unser Deutschland und uns selbst. Einige Lieder, 
vierstimmig gesungen, umrahmen unsere schlichte 
Weihnachtsfeier. Einige Offiziere und Mann¬ 
schaften unserer Wache nehmen teil. Der Lager¬ 
kommandant äußert den Wunsch, wir möchten 
ihm doch das Lied „Der Mai ist gekommen" 
singen, das könne er auch mitsingen. Sein Wunsch 
wird erfüllt und aus 60 kräftigen Kehlen schmet¬ 
tert zum Schlüsse unserer Feier: „Der Mai ist 
gekommen!" — Mit dieser humoristischen Num¬ 
mer, für die wir tausend Zigaretten erhielten, 
findet unsere Weihnachtsfeier ihren Abschlug. 
Wir ziehen uns in unsere acht Asbestbaracken 
zurück. Unser Koch hat es fertig gebracht, für 
jeden der Kameraden einen Christstollen zu 
backen. Wenn wir nicht wüßten, daß Kriegs¬ 
gefangene gerade in solchen Sachen sehr erfin¬ 
derisch sind, hätten wir bestimmt noch einmal an 
den Weihnachtsmann geglaubt. Trotzdem will 
keine Festesfreude hochkommen. Nur zaghaft 
klingen einige alte Weihnachtslieder auf. Die 
Kameraden verkrümeln sich nach und nach um 
den kleinen Ofen. Zu schwere Gedanken lasten 
auf jedem. 
Die Kanonen der Schlachtfelder sind ver¬ 
stummt. Die Fronten hallen nicht mehr wider 
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