Weihnachtsabend eines Kriegsgefangenen
Von Hauer Fritz Sick, Grube König
Als deutscher Arbeiter verdiene ich mein Brot
als Bergmann auf einer unserer Saargruben.
An den langen Winterabenden, besonders in
der Adventszeit, bitten mich meine beiden Mäd¬
chen des öftern, ihnen doch einmal etwas vom
Weltkrieg oder aus der Gefangenschaft in Eng¬
land zu erzählen. Alle Einwände nutzen nichts,
erzählen mutz ich doch. Und es geht wirklich ganz
gut beim traulichen Schein unseres Advents¬
kranzes.
Fünfter Weihnachtsabend in Feindesland.
Kriegsgefangen in England. Am 24. Dezember,
dem Tag vor dem Feste, ertönt die Sirene der
Fabrik in Schottland, in der wir Kriegsgefan¬
gene arbeiten, eine Stunde früher zum Beginn
der Arbeit. Der wachhabende englische Offizier
gibt bekannt, datz der „Prissoner of war S.
Nr. 11232" zurückbleibt und zum Zahnarzt nach
Jnverkeithing zur Behandlung geht. Man hatte
mir bei meiner Gefangennahme in Flandern an
einem Maschinengewehr den Kovf übel zuge¬
richtet. Fast alle Zähne hatte ich dabei verloren.
Nachdem der Kopf in einem englischen Lazarett
bei Manchester wieder zusammengeklaubt war.
sollte ich nun heute mein Ersatz-Kauwerk aus
der Stadt abholen. Auch ein Weihnachtsgeschenk,
das noch den Vorzug hatte, einen stets an die
Vergänglichkeit alles Menschlichen zu erinnern.
Der englische Wachtposten marschiert mit auf¬
gepflanztem Seitengewehr neben mir, er beglei¬
tet mich sogar ins Sprechzimmer des Zahn¬
arztes. Der Zahnarzt, ein menschenfreundlicher
Mann, freut sich nicht weniger als ich selbst,
datz das Ersatzstück so gut geraten ist und vor¬
züglich patzt. Er bittet mich um ein Souvernir
(Andenken) und bedeutet mir, datz er etwas zum
Christfest in meinen Mantel und Mütze gesteckt
habe. Auf eine gutgelungene Photographie, das
einzige das ich hatte, schrieb ich meine Heimat¬
adresse und schenkte sie ihm. Mit einem wohl¬
gemeinten Händedruck verabschiedete mich der
Zahnkünstler. Auf der Straße blieb eine gut¬
gekleidete Dame vor mir stehen, spukte mich an
und fauchte: „Bleddi focking Germany Prisso¬
ner!" Schade, datz ich meine Meinung über
unsere englischen Vettern, wenigstens über einen
Teil derselben, wieder ändern mutzte. Und doch
fühlte ich in den Taschen meines Mantels einige
Schachteln Zigaretten, Gebäck und Schokolade.
Im Lager wieder angekommen, sollte ich bis
zur Rückkehr der Kameraden von der Arbeit den
Raum zu unserer Weihnachtsfeier herrichten.
Zunächst schleppte ich alle Tische zusammen zu
einer Bühne. Der kleine Raum, der noch ver¬
blieb, wurde mit Bänken ausgefüllt. Alle meine
Bitten um einen Weihnachtsbaum wurden vor.
dem englischen Lagerkommandanten mit der
Bemerkung abgetan: „Ihr Deutsche seid doch
wie kleine Kinder, warum denn noch ein Bäum¬
chen mit buntem Firlefanz." Das Klavier aus
der englischen Kantine durfte ich mit dem
Kamerad aus der Küche in unsere Baracke schaf¬
fen. Ein Weihnachtsbaum mutzte nun trotz der
Ablehnung durch den Kommandanten doch her¬
bei, sonst machten die Kameraden bei ihrer
Rückkehr enttäuschte Gesichter. Da fällt mir ein,
datz meine Eltern dem letzten Paket ein Trans¬
parent, einen Weihnachtsbaum darstellend, bei¬
gelegt hatten. Behutsam falte ich es ausein¬
ander, glätte es und fertige einen Holzrahmen.
Auf unserer Bühne wird es aufgestellt, dahinter
ein paar Kerzen, und — — wir haben den
schönsten Weihnachtsbaum. Die Kameraden
kommen von der Arbeit, reinigen sich von dem
Staube. Einige ziehen sogar ihre Uniform an.
Der deutsche Koch hatte lange gespart, um heute
abend Suppe mit etwas Hammelfleisch geben
zu können. Unser Festraum füllt sich rasch. Da
sitzt der junge Kriegsfreiwillige neben dem bär¬
tigen Landwehrmann, auf den in der Heimat
Frau und Kinder harren. Alle im Herzen das
gleiche Heimweh! Unwillkürlich vergleichen wir
das Jetzt mit dem Einst, die heutige Weihnacht
mit den Christfesten längst vergangener Zeiten.
Einen englischen Geistlichen, der uns angeboten
wurde, hatten wir abgelehnt. Was sollten wir
mit ihm, wir waren doch lauter Deutsche, die
in ihrer Muttersprache ihre Weihnacht haben
wollten. Einer der Unseren spricht herrliche
Worte, Worte der Pflichterfüllung gegen andere,
unser Deutschland und uns selbst. Einige Lieder,
vierstimmig gesungen, umrahmen unsere schlichte
Weihnachtsfeier. Einige Offiziere und Mann¬
schaften unserer Wache nehmen teil. Der Lager¬
kommandant äußert den Wunsch, wir möchten
ihm doch das Lied „Der Mai ist gekommen"
singen, das könne er auch mitsingen. Sein Wunsch
wird erfüllt und aus 60 kräftigen Kehlen schmet¬
tert zum Schlüsse unserer Feier: „Der Mai ist
gekommen!" — Mit dieser humoristischen Num¬
mer, für die wir tausend Zigaretten erhielten,
findet unsere Weihnachtsfeier ihren Abschlug.
Wir ziehen uns in unsere acht Asbestbaracken
zurück. Unser Koch hat es fertig gebracht, für
jeden der Kameraden einen Christstollen zu
backen. Wenn wir nicht wüßten, daß Kriegs¬
gefangene gerade in solchen Sachen sehr erfin¬
derisch sind, hätten wir bestimmt noch einmal an
den Weihnachtsmann geglaubt. Trotzdem will
keine Festesfreude hochkommen. Nur zaghaft
klingen einige alte Weihnachtslieder auf. Die
Kameraden verkrümeln sich nach und nach um
den kleinen Ofen. Zu schwere Gedanken lasten
auf jedem.
Die Kanonen der Schlachtfelder sind ver¬
stummt. Die Fronten hallen nicht mehr wider
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