Von Dieter von der Schulenbnrg
Wie die Viftra-Faser entsteht
Ein Werkbesnch in Premnitz
Ganz in der Nähe von Rathenow, etwa
der Hälfte der nach Brandenburg weiterführen¬
den Straße, liegt das Dorf Premnitz. Hohe,
rauchende Schlote, weitläufige Werkanlagen,
Hallen, Säle und Verladeschuppen mit Prähmen,
Eisenbahngleisen, Heizräumen und Kesselhäusern
mit gewaltigen Rohrleitungen von der vielfachen
Dicke einer Pythonschlange weisen schon von wei-
Aus der Zellwoll-Herstellung:
Blick in einen Zerfaserer
Foto: Vistra-Archiv (Peterhans)
tem den Weg und verraten nach wenigen Minu¬
ten, wo man sich befindet. 2m Musterzimmer
steht man zunächst betroffen vor der unerhörten
Fülle und Vielseitigkeit des Materials, das hier
in Premnitz, wenigstens im Rohstoff hergestellt
wird.
Da liegen auf langen Tischen Damenstoffe
aller Art, Unterwäsche, Strümpfe, namentlich
Damenstrümpfe von einer Feinheit und Weich¬
heit der Seidenqualität, daß sie sich wie Oel an¬
fassen. Da befinden sich schwere Anzugstoffe auf
den Tischen, stärksten Strapazieranforderungen
gewachsen, wie für Militärzwecke, Arbeitsdienst
usw. Da sind ferner Mischstoffe mit Leinen oder
Kunstseide, Wollstoffe unter Zusatz von TT-
Faser hergestellt, die nach einem neuen Verfahren
erzeugt wird. Und es ist eine prächtige, eben¬
falls ganz weiche Wolle, die an Hasenwolle oder
Kamelhaar erinnert, an das bekannte Angora-
Kasha etwa, dem Tierprodukt nicht nachstehend.
Um so wirkungsvoller aber ist die Erklärung,
baß schon 25 vH. Zusatz von Vistrafaser zu den
in Deutschland verarbeiteten Baumwollmengen
und Wollmengen eine Devisenersparnis von 100
bis 200 Mill. RM. ausmacht. Sehr interessant
ist auch, daß die Vistrafaser schon früher zu
Millionen Kilo nach Amerika ging. Das seiner¬
zeitige Abgehen der angelsächsischen Länder vom
Goldstandard hat die weitere Entwicklung dieses
deutschen Absatzgebietes gehemmt. Bezeichnend
ist aber die Tatsache, daß ein Land wie die
Vereinigten Staaten, das selbst Baumwolle als
natürlichen Rohstoff im Ueberfluß besitzt, das
nächst Aegypten und wenigen anderen Gebieten
auf der Erde Anbau- und Hauptausfuhrland von
Baumwolle ist, Vistrafaser von uns bezog. Der
Bedarf nach ihr wächst drüben stetig, so daß man
dazu übergegangen ist, sie dort selbst herzustellen.
Die erste Anregung, eine Faser künstlich zu er¬
zeugen, gab 1734 Reaumur. Anfang der 80er
Jahre gelang es dann dem Grafen Chardonnet,
Kunstfäden fabrikmäßig herzustellen, die er „künst¬
liche Seide" nannte. Verbesserungen folgten, bis
die vier Hauptverfahren: das Nitrat-, Kupfer-,
Viskose- und Acetatkunstseideverfahren großtech¬
nisch zur Durchführung gelangten. Allen ist das
gleiche Grundmaterial, die Zellulose, zu eigen,
die man entweder in Form von Linters (d. h.
Baumwollfäden) verwendet oder aus dem Fich¬
tenholz, neuerdings sogar aus der Rotbuche, ge¬
winnt. Das Holz wird geschält, von Aesten be¬
freit, naß geschliffen und mit Sulfitlauge gekocht.
2n großen Papvtafeln kommt es dann zur Ver¬
arbeitung in Vistrafaser.
Zur größten praktischen Bedeutung gelangte
das Viskoseverfahren, das die Engländer Croß,
Aus der Zellwoll-tzerstellung: Lösekessel
Foto: Vistra-Archiv (Peterhans)
Bevan und Beadle entdeckten. Nach diesem wird
auch in dem großen Werk von Premnitz gearbei¬
tet. In der „Lagerei" sehen wir zunächst die
mächtigen Stapel der weißen Pappe, die Zellu¬
lose, wie sie hier angeliefert wird. Mit Aetz-
natronlauge behandelt, wird sie zu Natronzellu¬
lose. Stapel für Stapel, auf Karren herbei¬
geschafft, wandert so in die lange Reihe eiserner,
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