Full text: 64.1936 (0064)

„Lieber Waldgeist, öffne du den Schacht, da¬ 
mit mein Vater herauskommen kann. Ich schenke 
dir auch die Uhr, bitte, bitte." 
Dann läuft sie, so schnell sie kann, wieder 
zurück. 
Die Rettungskolonne hat sich Zugang ver¬ 
schafft. Hundert kräftige Hände regen sich, und 
schon kann man sich mit den Verschütteten ver¬ 
ständigen. Man ruft ihnen guten Mut zu. 
Und sie harren aus. Stunden vergehen noch, 
dann steigt der Obersteiger wieder zu Tage. 
Fragen dringen aus ihn ein. Er springt auf 
einen Haufen alten Eisens und spricht zu allen: 
„Es ist nichts geschehen. Alles da unten ist 
wohl und munter. In ein paar Stunden sind sie 
wieder oben. Solange müßt ihr noch Geduld 
haben." 
Und sie haben Geduld. 
Bäbchens Mutter sucht das Kind. Sie findet 
es ganz in der Nähe, in fieberhafter Anspan¬ 
nung. 
„Ist der Schacht schon offen," fragt es. 
„Ja, Kind, der Vater ist gerettet." 
Da beginnt die Kleine ganz langsam vor sich 
hinzuweinen, und keiner weiß, warum sie das 
tut. Vielleicht ist es die Aufregung, vielleicht 
der Verlust der Uhr. 
Als einige Stunden später der Vater glücklich 
zu Hause ist, hört er, wie sein Kind, vor Ueber- 
müdung eingeschlafen, im Traum spricht: 
„Lieber guter Geist, ich schenke dir die Uhr, 
die ich so lieb habe, laß dafür meinen Vater aus 
dem Schacht." 
Nickel lächelt glücklich. Und alle Gefahr ist 
vergessen. 
In der Hafenkneipe 
Die Kneipe des alten Iochem liegt inmitten 
des Freihasens einer norddeutschen Seestadt. Es 
ist eine alte, rauchgeschwärzte Vude mit nied¬ 
rigen Fenstern und einer krächzenden Türe. Das 
Lokal selbst ist klein, die Stühle und Bänke 
primitiv, die Tische ungedeckt und kaum ge¬ 
scheuert. Trotzdem wird keinem der Männer, die 
draußen auf der See ihr Brot verdienen, die 
Kneipe des Vaters Äochem fremd sein. Die nied¬ 
rige Stube ist das Stelldichein der Seefahrer, 
wenn sie nach monatelanger Abwesenheit festen 
Boden unter den Füßen haben und hier das erste 
Glas mit der überschäumenden Freude des See¬ 
mannes leeren, der endlich wieder zu seiner 
Familie, seinen Eltern oder seinem Mädel 
kommt. 
Sprachen schwirren in der kleinen Stube durch¬ 
einander, verschiedene Rassen sind hier vertreten. 
Männer aus verschiedenen Ländern drängen zur 
Schenke und holen sich den vorzüglichen Rum, 
der feurig durch die Kehle fließt und die Augen, 
in denen Sehnsucht brennt, noch heißer ausleuch¬ 
ten läßt. Draußen vor den Fenstern aber strahlt 
die Sonne. Die arbeitenden riesigen Krane 
singen ihr einförmiges Lied, die Sirenen der 
scheidenden Dampfer pfeifen und die Wogen der 
dunkeln See schlagen unablässig gegen die 
Molos. 
Oft auf enger Nußschale, die durch das ge¬ 
waltige Meer gleitet, verbringt der Seemann 
sein Leben; fremde Küsten steigen gleichsam aus 
den Tiefen der See und verschwinden wieder. 
Allmählich wird der gigantische Erdball für den 
Seemann bekanntes Land; in fremden Gestaden 
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Von Emilie Noithmaier 
grüßt er den vertrauten Freund, bis ihm 
Heimatlosigkeit zur Heimat wird. Bringt ihn 
aber dann sein stampfendes Haus an das Land, 
das die Tage seiner Kindheit gesehen hat, jo 
schlägt sein Herz in heißer Freude der wahren 
Heimat entgegen und über die wetterharten 
Züge geht ein glückliches Lächeln. 
Es ist undenkbar, sich in der Kneipe Jochems 
Langweile oder kleinliches Denken und Nörgeln 
vorzustellen. Hier ist alles auf den Augenblick 
eingerichtet. Harte Seemannsfäuste fassen die 
Hände der Kameraden zum herzlichen Gruß, 
überströmend schenken Freunde einander den 
Reichtum ihrer Seele. Sie wissen, sie dürfen 
nicht kargen, sie wissen auch, daß sie nie zu viel 
geben. Denn kurz sind die Minuten des Gebens 
und lange die Zeit, die der geschenkte Vorrat zu 
reichen hat. Hier frägt das Mädel nicht nach 
neugierigen Blicken, wenn sie in heißer Wieder¬ 
sehensfreude den Liebsten küßt, hier kümmert sich 
keiner um die Gefühlsäußerungen des Anderen. 
Sie wissen, daß jedes Wiedersehen zugleich den 
Abschied in sich trägt und feiern auch in jeder 
Stunde des Wiedersehens schon die Stunde des 
Abschiedes. 
„Darf ich spielen, Iochem? Der alte Hafen¬ 
wirt läßt den Blick über die magere Frauen¬ 
gestalt gleiten, die, eine Violine in der Hand, 
vor ihm steht. Ein eigentümliches Zucken geht 
über sein Gesicht, dann nickt er der Frau zu: 
„Ja spiel' und hol dir dann bei mir das Essen!" 
In der Kneipe ist ein wirres Durcheinander 
von Stimmen, die plötzlich verstummen, als die 
Frau die Geige hebt und zu spielen beginnt. Sie
	        
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