„Lieber Waldgeist, öffne du den Schacht, da¬
mit mein Vater herauskommen kann. Ich schenke
dir auch die Uhr, bitte, bitte."
Dann läuft sie, so schnell sie kann, wieder
zurück.
Die Rettungskolonne hat sich Zugang ver¬
schafft. Hundert kräftige Hände regen sich, und
schon kann man sich mit den Verschütteten ver¬
ständigen. Man ruft ihnen guten Mut zu.
Und sie harren aus. Stunden vergehen noch,
dann steigt der Obersteiger wieder zu Tage.
Fragen dringen aus ihn ein. Er springt auf
einen Haufen alten Eisens und spricht zu allen:
„Es ist nichts geschehen. Alles da unten ist
wohl und munter. In ein paar Stunden sind sie
wieder oben. Solange müßt ihr noch Geduld
haben."
Und sie haben Geduld.
Bäbchens Mutter sucht das Kind. Sie findet
es ganz in der Nähe, in fieberhafter Anspan¬
nung.
„Ist der Schacht schon offen," fragt es.
„Ja, Kind, der Vater ist gerettet."
Da beginnt die Kleine ganz langsam vor sich
hinzuweinen, und keiner weiß, warum sie das
tut. Vielleicht ist es die Aufregung, vielleicht
der Verlust der Uhr.
Als einige Stunden später der Vater glücklich
zu Hause ist, hört er, wie sein Kind, vor Ueber-
müdung eingeschlafen, im Traum spricht:
„Lieber guter Geist, ich schenke dir die Uhr,
die ich so lieb habe, laß dafür meinen Vater aus
dem Schacht."
Nickel lächelt glücklich. Und alle Gefahr ist
vergessen.
In der Hafenkneipe
Die Kneipe des alten Iochem liegt inmitten
des Freihasens einer norddeutschen Seestadt. Es
ist eine alte, rauchgeschwärzte Vude mit nied¬
rigen Fenstern und einer krächzenden Türe. Das
Lokal selbst ist klein, die Stühle und Bänke
primitiv, die Tische ungedeckt und kaum ge¬
scheuert. Trotzdem wird keinem der Männer, die
draußen auf der See ihr Brot verdienen, die
Kneipe des Vaters Äochem fremd sein. Die nied¬
rige Stube ist das Stelldichein der Seefahrer,
wenn sie nach monatelanger Abwesenheit festen
Boden unter den Füßen haben und hier das erste
Glas mit der überschäumenden Freude des See¬
mannes leeren, der endlich wieder zu seiner
Familie, seinen Eltern oder seinem Mädel
kommt.
Sprachen schwirren in der kleinen Stube durch¬
einander, verschiedene Rassen sind hier vertreten.
Männer aus verschiedenen Ländern drängen zur
Schenke und holen sich den vorzüglichen Rum,
der feurig durch die Kehle fließt und die Augen,
in denen Sehnsucht brennt, noch heißer ausleuch¬
ten läßt. Draußen vor den Fenstern aber strahlt
die Sonne. Die arbeitenden riesigen Krane
singen ihr einförmiges Lied, die Sirenen der
scheidenden Dampfer pfeifen und die Wogen der
dunkeln See schlagen unablässig gegen die
Molos.
Oft auf enger Nußschale, die durch das ge¬
waltige Meer gleitet, verbringt der Seemann
sein Leben; fremde Küsten steigen gleichsam aus
den Tiefen der See und verschwinden wieder.
Allmählich wird der gigantische Erdball für den
Seemann bekanntes Land; in fremden Gestaden
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Von Emilie Noithmaier
grüßt er den vertrauten Freund, bis ihm
Heimatlosigkeit zur Heimat wird. Bringt ihn
aber dann sein stampfendes Haus an das Land,
das die Tage seiner Kindheit gesehen hat, jo
schlägt sein Herz in heißer Freude der wahren
Heimat entgegen und über die wetterharten
Züge geht ein glückliches Lächeln.
Es ist undenkbar, sich in der Kneipe Jochems
Langweile oder kleinliches Denken und Nörgeln
vorzustellen. Hier ist alles auf den Augenblick
eingerichtet. Harte Seemannsfäuste fassen die
Hände der Kameraden zum herzlichen Gruß,
überströmend schenken Freunde einander den
Reichtum ihrer Seele. Sie wissen, sie dürfen
nicht kargen, sie wissen auch, daß sie nie zu viel
geben. Denn kurz sind die Minuten des Gebens
und lange die Zeit, die der geschenkte Vorrat zu
reichen hat. Hier frägt das Mädel nicht nach
neugierigen Blicken, wenn sie in heißer Wieder¬
sehensfreude den Liebsten küßt, hier kümmert sich
keiner um die Gefühlsäußerungen des Anderen.
Sie wissen, daß jedes Wiedersehen zugleich den
Abschied in sich trägt und feiern auch in jeder
Stunde des Wiedersehens schon die Stunde des
Abschiedes.
„Darf ich spielen, Iochem? Der alte Hafen¬
wirt läßt den Blick über die magere Frauen¬
gestalt gleiten, die, eine Violine in der Hand,
vor ihm steht. Ein eigentümliches Zucken geht
über sein Gesicht, dann nickt er der Frau zu:
„Ja spiel' und hol dir dann bei mir das Essen!"
In der Kneipe ist ein wirres Durcheinander
von Stimmen, die plötzlich verstummen, als die
Frau die Geige hebt und zu spielen beginnt. Sie