Full text: 60.1932 (0060)

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wollten sie alle in unser Haus. Dann wieder blitzte 
Laternenschein durch die Fensterladen, tat sich hie 
und da eine Klingeltüre auf und zu; wurde aus 
Leibeskräften hastig Wasser gepumpt, mit den 
Eimern und der sogenannten „Pehde" (Wassertrage) 
ein fabelhafter Lärm gemacht. Endlich war auch 
das großelterliche Haus aufgeschlossen, und nun 
trabten die Leute über die kleine Rennsteinbrücke 
(hier Drumme genannt) aus und ein, daß es so 
dumpf und schauerlich „bullerte", wie ich mein Leb¬ 
tage noch nicht gehört. Ich lebte ja aber noch nicht 
lange und hatte vollends nichts anderes vernom¬ 
men, als was man eben auf einem halbpolnischen 
und halbpreußischen Dörfchen so zu hören pflegt, 
und das waren die Töne und Spielarten der Natur; 
keineswegs aber der wüste Lärm und Spektakel der 
Stadt und Zivilisation. Aber an diesem Klein¬ 
städtergeräusch machte sich eben nun die Grabesstille 
der altpreußischen Welt so bemerklich, wie die Fin¬ 
sternis an einem Lichtlein, das in die sternenlose 
Nacht hinausgehalten wird. 
Unsere Glückseligkeit und Seelenharmonie dauerte 
nicht allzulange; denn bevor wir uns im Halb¬ 
schlummer dessen versahen, trat der Papa mit der 
Morgenpfeife und einem Licht in der Hand so über¬ 
raschend zur Türe herein, daß für meine schuldig- 
unschuldige Person jeder Rückzug ein Ding der Un¬ 
möglichkeit blieb. 
Aber es geschah diesmal soviel als nichts. Der 
gute Vater, welcher in seiner rosafarbensten Feier¬ 
tagslaune war, sagte ohne alle Strenge in Ton und 
Miene: „Na, das konnt' ich mir wohl denken; wenn 
ihr beiden mal zusammen seid, dann liegt ihr auch 
in einem Bette. Schäm' Er sich doch, Er großer Laps." 
Ich schämte mich auch in der Tat. Die arme, ge¬ 
wiß auch erschreckte Mama aber streckte dem Papa 
beide Arme entgegen und sagte ganz gerührt über 
so viel Mäßigung und Gutmütigkeit des Alten: 
„Mein lieber Mann, es ist ja auch heute Heiliger 
Christ: wir feiern ihn nach langer Zeit wieder in 
meiner lieben Vaterstadt und in meiner lieben 
Eltern Haus." „Und mit dem Herzensjungchen im 
Bette," setzte der Vater, seine Rührung verbergend 
und neckend hinzu, indem er mich aus dem Bette 
gehoben und auf den Boden niedergesetzt hatte, be¬ 
vor ich mich dessen versah. Daß ich nunmehr flink 
in die Hosen kam, verstand sich von selbst. 
Die liebe Mama warf sich auch alsbald ins Zeug, 
und als wir den Großeltern über dem Kopfe wirt¬ 
schafteten und ich mit meinen neuen Wadenstiefeln, 
die auf besonderes Bitten nägelbeschlagene Absätze 
hatten, herumstampfte, wurden auch die alten Herr¬ 
schaften alarmiert. 
Sie hielten einen Gewürz- und Kramladen von 
den Trümmern eines bedeutenden Geschäfts, das 
von Hause aus in Königsberg betrieben worden 
war. Aus jener goldenen oder silbernen Zeit hingen 
da noch im Laden einige Raritäten: eine Kokosnuß, 
ein Straußenei, vor allen Dingen aber ein See¬ 
schiff und, was mir für das Fabelhafteste galt, ein 
Krokodil. Die Mutter hatte an langen Herbst¬ 
abenden von diesen Wundern in ihrer Eltern Laden 
mit derselben Miene wie von Märchenabenteuern 
erzählt, und jetzt stand ich auf einmal mitten unter 
diesen Herrlichkeiten. Der Ladenbursche hielt eine 
Blendlaterne in der Hand, rasselte fürchterlich mit 
einem unvernünftigen Schlüsselbund beim Aus¬ 
schließen der Tür, und stieß sie dann mit Knie und 
Ellenbogen mit einer Kraftanstrengung auf, wie 
wenn der Einlaß durch schatzhlltende Geister ver¬ 
teidigt worden wäre. Sodann sah ich mit stieren 
Augen und mit allen meinen Sinnen in Wirklich¬ 
keit, was bis dahin nur in der Einbildungskraft gelebt. 
Die Mutter wie der Ladenbursche vergnügten sich 
wohl an meiner Verwunderung und beleuchteten 
zunächst auf mein leises Befragen das vielbe¬ 
sprochene Krokodil. Es hing schauerlich-schön über¬ 
firnißt und bestäubt von der Decke herab. Der halb¬ 
geöffnete Rachen zeigte die furchtbaren Zähne, und 
so fehlte es mir keineswegs an dem heiligen Re¬ 
spekt, mit welchem man Altertümer und Ungeheuer 
in Augenschein nehmen soll. 
Aus dem Wunderladen ging es nun zu den Gro߬ 
eltern in die große Putzstube mit einem kolossalen 
Fenster auf das Gehöft hinaus. 
Auf dem großen Eichentische mit gewundenen 
Füßen stand nicht nur Kuchen und Kaffee bereit, 
sondern in einer blaugemusterten hohen Porzellan¬ 
kanne duftete eine Schokolade, von der die Mama 
noch aus dem Vaterhause her eine große Liebhaberin 
war. Mein Sinn und Geschmack aber schwamm in 
lauter Weihnachten und blieb demnach auf die Türe 
des letzten Hinterstübchens gerichtet, wo die liebe 
Großmama, unter dem Beistände der alten Laden¬ 
jungfer, mit Beschickung des Heiligen Christes be¬ 
schäftigt war. 
Ich trank im Sturm der Gefühle die so lange er¬ 
sehnte Schokolade ohne sonderlich viel Bewußtsein 
und Genuß. Es ging mir also eigentlich, wie es den 
Märchenhelden ergeht. Ich mußte mich durch Kroko¬ 
dile und Straußeneier verwirren und erschrecken 
und dann wieder mit süßem Kuchen und verführe¬ 
rischen Getränken meine Sinne vollends berücken 
und gefangen nehmen lassen, ohne der Hauptsache, 
d. i. der Weihnachtsbescherung, verlustig zu gehen. 
Ich blieb aber fest, ich paßte aufs beste und gelangte 
tapfer ans Ziel. 
Weihnachten hatte damals für alle Christen¬ 
menschen, gläubige wie ungläubige, in der Seele 
denselben Klang und Sang, denselben Schimmer 
und heiligen Schein. Kinderweihnachten zu be¬ 
schreiben, ist so unmöglich und so überflüssig, wie 
wenn einer seine Seele und sein Christentum oder 
seine Eingeweide wie einen Handschuh herauswen¬ 
den wollte. Ich mag also nur sagen, was eben die 
altpreußische Weihnacht Absonderliches mit sich ge¬ 
führt hat, und das war hauptsächlich ein Tannen¬ 
baum mitten aus der Heide, in eine große Bütte 
mit nassem Sande gepflanzt, so daß der goldene 
Apfel auf der Spitze beinahe die Zimmerdecke an¬ 
stieß. Dann ein neuer Zinnteller, so gleißend wie 
eitel Silber, auf dem die Thorner Pfefferkuchen, die 
Marzipanstücke, die Nüsse, die Rosinen und Mandeln 
und die roten Stettiner Äpfel lagen, und endlich 
eine Schachtel mit gedrechselten „Heiligenbeiler 
Spielsachen" von Wacholder, hier „Kaddigholz" ge¬ 
nannt, welches ein Geäder wie Zedernholz hat und 
dessen starker und ganz eigentümlicher Geruch mich 
heute noch, wo ich auf ihn treffe, ganz tiefsinnig 
und schwermütig macht. 
Während nun Eltern und Großeltern zu ihrem 
Herrn und Heiland in der Kirche beteten und Buße 
taten, habe ich träum- und glückselig mit meiner 
heiligen Christbescherung gespielt.
	        
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