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Wie hätte ich böse werden können, wo ich
nur Beispiele von Sanftmut vor Augen und
um mich die allerbesten Personen hatte Mein
Vater, meine Tante, unsere Magd, unsere Ver¬
wandten. Freunde und Nachbarn, alles, was mich
umgab, gehorchte mir zwar nicht, aber liebte
mich; und ich liebte sie ebenfalls. Mein Eigen¬
wille wurde so wenig geweckt, und verletzt, daß
es mir nicht in den Sinn kam, eine Spur davon
zu zeigen. Außer der Zeit, die ich mit Lesen
und Schreiben bei meinem Vater verbrachte,
und den Stunden, wo unsere Magd mich
spazieren führte, war ich stets bei meiner
Tante, sah, wie sie flickte, und hörte, wie sie
sang, wobei ich neben ihr saß oder stand, und
ich war glücklich. Ihr munterer Sinn, ihre
Sanftmut, ihre angenehme Gestalt, haben mir
so starke Eindrücke hin¬
terlassen, daß ich immer
noch ihre Miene, ihren
Blick, ihre Haltung
sehe. Ich erinnere mich
ihres liebkosenden Ge¬
plauders; ich könnte
sagen, wie ihre Klei¬
dung und ihr Kopfputz
war, ohne die beiden
Löckchen zu vergessen,
die ihre schwarzen
Haare nach der Mode
jener Zeit auf ihren
Schläfen bildeten.
Ich bin überzeugt,
daß ich ihr die Neigung
oder vielmehr die Lei¬
denschaft für die Musik
verdanke, die sich erst
lange nachher in mir so
recht entwickelt hat. Sie
wußte eine erstaunliche
Menge Lieder und Wei¬
sen, die sie mit sanfter
und leiser Stimme sang.
Die seelische Heiterkeit
dieser Person, die un¬
verheiratet geblieben
war, hielt von ihr und
ihrer ganzen Umgebung
alle Träumerei und
Traurigkeit fern. Der
Reiz, den ihr Gesang
für mich hatte, war so
groß, daß nicht nur
mehrere von ihren Lie¬
dern mir stets im Ge¬
dächtnisse geblieben sind,
sondern daß mir noch
heute solche einfallen,
die seit meiner Kind¬
heit völlig vergessen
waren und jetzt im Alter mit einem unsag¬
baren Zauber wieder lebendig werden.
(Bekenntnisse)
*
Eine Nacht unter freiem Himmel.
Ich erinnere mich, eine köstliche Nacht außer¬
halb der Stadt auf einem Wege verbracht zu
haben, der die Rhone oder die Saöne entlang
führt, denn ich weiß nicht mehr recht, welcher
von den beiden Flüssen es war. Zu Terrassen
erhöhte Gärten begrenzten den Weg auf der
entgegengesetzten Seite. Es war den Tag über
sehr warm gewesen, doch der Abend war herr¬
lich, und der Tau netzte das welke Gras; die
Luft war frisch, ohne kühl zu sein; die Sonne
Pariser Kolonialourstellung: Teil des Hauptgebäudes von Piederlöndisch-2ndien. (Photo: Miroir du Monde.)