Full text: 56.1928 (0056)

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So vergingen die Jahre. 
Karlchen nahm Abschied eines 
Tages, und Frau Schmiedeboom 
brachte ihn selbst in die Latein¬ 
schule. 
Hans Peter aber stand Hand in 
Hand mit der kleinen Anneliese, 
Kärtchens Schwester, am Zuge 
und wischte sich immer wieder das 
Wasser aus den Augen. Anneliese 
dachte nicht an sowas. 
Anneliese war überhaupt wie 
ein Junge. Zweimal war sie schon 
in den Bach gefallen. Und ein¬ 
mal hatte sie Arthür Leines, den 
Sohn vom Amtmann, der gerade 
so alt war wie sie, ins volle 
Regenfaß gesteckt, war in die 
Küche gelaufen und hatte strah¬ 
lend der Mutter erzählt: „Arthur 
Leines versaust im Regenfaß — 
hurra!" 
Sie bezog unendlich viel Prügel 
und durfte nie in die Apotheke. 
Denn sie steckte alles in den 
Mund, was ihr in den Weg 
kam. 
Als aber nun Hans Peter gar so betrübt in die 
Welt guckte, legte sie einfach den Arm um seine 
Schulter und sagte merkwürdig innig: „Sei nur still, 
Hans, du sollst auch mein Mann werden." 
„Ja", nickte Hans Peter, „aber du darfst mich 
dann nie in ein Regensaß stecken, Anneliese." 
„Nein, Hans, das tu 
ich nur mit den ande¬ 
ren Jungens." 
Da war es Hans 
Peter zufrieden. — 
Bald darnach wurde 
Hans Peter Meßdiener 
und bekam weiter jeden 
Tag vom Herrn Pastor 
eine Lateinstunde. 
Und Pastor Buch¬ 
mann hatte den kleinen 
Hans bald noch lieber 
als seine liebsten Bü¬ 
cher. Und eines Tages 
las er ihm aus Mörikes 
Gedichten vor. ' Und 
Hans Peter saß mucks- 
mäuschenstill da, und 
bekam glänzende Augen 
und einen heißen Kopf. 
Als er dann Nacht¬ 
wächter Möller andern 
Tags traf, nahm er ihn 
vorsichtig in eine Ecke 
und sagte mit bebender 
Stimme: „Nun weiß 
ich, was ich werde!" 
„Um Gotteswillen 
doch nicht Nachtwächter, 
Hans?" 
„Nein — nein, Möl¬ 
ler, — Dichter!" 
SR D tu : Tempel der Vesta. 
Rom: Palazzo dt Venezia. 
„Brr", machte Nachtwächter Möller nur und zog 
sein Gesicht in essigsaure Falten, „das ist nicht viel 
besser als Nachtwächter auch, und ich hab' doch so an 
den g'studierten Herrn geglaubt!" 
Und er trank verächtlich einen Steinhäger, spuckte 
aus und fuhr wieder fort: „Hans, das sind windige 
Burschen, mogeln den 
Leuten nur was vor, 
und kriegen doch nie 
Geld. Nee, Hans — ich 
fach nochmal nee!" 
Da ließ Hans Peter 
den Nachtwächter Möl¬ 
ler zum erstenmal in 
seinem Leben einfach 
stehen, drehte sich kurz 
um und trällerte den 
Dessauer-Marsch. 
* So kam er nach Hause 
in die Werkstätte. Hans 
Peter hatte noch nie 
sonst den Dessauer- 
Marsch seinem Vater 
nachgepsisfen. Nun mach¬ 
te der ein so überrascy- 
tes Gesicht, daß Hans 
Peter mitten im Pfei¬ 
fen abbrach: „Ein Dich¬ 
ter ist doch was viel 
Feineres als ein Nacht¬ 
wächter, gelt Vater?^ 
„In, mein Junge", 
und Kaspar Peter legte 
Leder und Riemen lang¬ 
sam beiseite, „was viel 
Feineres ist ein Dichter, 
Hans!" 
„Siehst du — stehst 
du! Und ich werde auch 
einer!"
	        
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