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Der wirklich edle, vornehm empfindende Sohn
wartet nicht, bis Unglück, Enttäuschung und Siechtum
ihn zur Mutter zurücktreibt. Er vergißt nie, daß ihn
einmal dieser Schoß
getragen and mit
Gefahr des Todes
zur Welt gebracht
hat. Er denkt bis¬
weilen zurück an
jene schmerzlich süße
Stunde, da ihn die
Mutter der Welt
schenkte.
Und als das Kind ge¬
boren war,
Sie mutzten der Mut¬
ter es zeigen,-
Da ward ihr Auge von
Tränen so klar,
-Es strahlte so wonnig
und eigen.
Gern litt ich und werde,
mein sützes Licht,
Viel Schmerzen um dich
noch erleben.-
Ach, lebt von Schmerzen
die Liebe nicht,
Und nicht von Liebe
das Leben ?
. (A. v. Chamisso.)
Er denkt an die
Opfer und Sorgen
der Liebe, welche
für die Mutter so
selbstverständlich, so
tief Bedürfnis wa¬
ren wie das Atmen;
er denkt, wie sie sein
Leben gehegt und
gepflegt hat, als
wäre es ihr eigenes
Leben.
Der edle Sohn
sucht auch die ängst¬
liche Sorge der
Mutter zu verstehen — ist es doch nichts als der Aus¬
fluß einer unbegrenzten Liebe. Vielleicht nennt der
Sohn diese Liebe eine törichte Liebe; aber muß nicht
die Liebe töricht sein, und hört sie nicht auf, Liebe zu
sein, wenn sie vernünftig wird? Und selbst wenn
die harte Pflicht und der Ernst des Lebens den Sohn
zur Trennung von der Mutter ruft, trägt er ihr
reines Bild als Heiligtum und Talisman in seinem
terzen. Es ist wirklich eine Mahnung in ernsten
tunden, ein Trost in schweren Stunden und ein
Schutz in gefährlichen Stunden.
Sohnesschuld.
Wissen Sie, ich kann es nicht recht leiden, wenn
inan Kindern und besonders erwachsenen Söhnen
klarmachen will, sie schuldeten der Mutter Dank für
ihre Liebe. Die Liebe ist kein Tausch- und Handels¬
gegenstand, den man durch Dank quittmachen kann,
und wenn man sich ans Rechnen und Überlegen gibt,
wieviel Dank man für die Mutterliebe schuldet, so
A. Dürer: Selbstportratt.
tut man der Liebe sowohl wie auch der Dankbarkeit
Gewalt an und zerreißt das innigste Band, das Gott
selbst geknüpft hat.
Nern, Mutter und
Sohn gehören zu¬
sammen, und die
Liebe und Treue, die
der Sohn der Mut¬
ter erweist, ist eben¬
so selbstverständlich
wie jene Liebe, die
einmal die Mutter
dem Kinde erwiesen
hat. Der Sohn, der
die Mutter verletzte
und verließ, wäre
ein durch und durch
niedriger, gemeiner
Mensch. In ihm
wäre etwas unaus¬
sprechlich Edles nicht
entwickelt oder ab¬
gestorben.
Ich will Ihnen
eine persönliche Le¬
benserfahrung er¬
zählen. Als iunger,
erwachsener Mensch
hatte ich einmal
meine Mutter ver¬
letzt, gerade als ich
im Begriffe stand,
eine Reise anzutre¬
ten. Ich nahm den
Stachel dieser Ver¬
letzung mit aus die
Reise. Ich schämte
mich in tiefster
Seele meines Man¬
gels an Selbstbe¬
herrschung und an
Edelsinn. Ich habe
draußen in der
Fremde für meine
Mutter ein Geschenk
gekauft, das eigent¬
lich über meine
Kräfte ging. Ich habe mich damit herumgeschleppt
auf der Eisenbahn und auf Fußwegen. Und erst, als
ich es meiner Mutter bei der Heimkehr in die Hand
gelegt hatte, und als ich an ihrem Blick sah, daß sie
mich verstand, da konnte ich auch selbst wiederum
froh sein.
^ Geschichtlich ist die Genugtuung, die einst der
Schwedenköuig Karl XII. seiner Mutter geleistet hat.
Bei einem Gelage hatte er in der Trunkenheit seine
Mutter schwer beleidigt. Am anderen Tage nahm
er einen Becher voll Wein, begab sich zu ihr und
sprach: „Madame, verzeihen Sie mir die Beleidigung
von gestern. Auf Ihr Wohl trink ich diesen Becher
Wein. Es wird oer letzte sein, den ich trinke." Und
dieses Wort hat er wahrgehalten. Von Stund an
hat er sich aller berauschenden Getränke enthalten.
So sühnte königlicher Edelmut die Verletzung der
heiligen Ordnung der Natur.
Aus: „Feierabende", Plaudereien mit jungen
Staatsbürgern von Dr. Anton Hetnen, Volks-
veretnsverlag, M. Gladbach,