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Spanische Stierkämpfe.
Ein Brief
V—,B—■
von Prosper Mérimée.
Madrid, den 25. Oktober 1830.
Mein werter Freund!
Die Stierkämpfe sind in Spanien noch immer sehr
beliebt; aber es gibt wenige unter den Spaniern
besseren Standes, die nicht eine gewisse Scham em¬
pfänden, ihren Gefallen an einem solchen Schauspiel,
das sicher sehr grausam ist, offen zu gestehen; daher
suchen sie denn auch andere gewichtige Gründe, um
sich zu rechtfertigen.
Zunächst ist es ein nationales Vergnügen. Das
Wort „national" würde allein schon genügen, denn
der Lokalpatriotismus ist in Spanien ebenso stark
wie in Frankreich.
Weiter sagen sie: die Römer waren noch viel bar¬
barischer als wir, da sie ja Menschen gegen Menschen
kämpfen ließen. Endlich, fügen die Landwirte hinzu,
hat die Landwirtschaft Nutzen von dieser Sitte; ver¬
anlaßt doch der hohe Preis der Kampfstiere die Eigen¬
tümer, große Herden zu züchten. Bekanntlich haben
aber durchaus nicht alle Stiere die Eigenschaft, gerade
auf Menschen und Pferde loszugehen, und unter
zwanzig ftndet sich kaum einer, der tapfer genug ist,
um im Zirkus aufzutreten; die neunzehn anderen
dienen dann der Landwirtschaft.
Der einzige Grund, den man nicht wagt, vorzu¬
bringen, obgleich er allein nicht zu widerlegen wäre,
ist der, daß diese Kämpfe so interessant sind, so an¬
ziehend, daß sie so mächtige Erregungen hervor¬
bringen, daß man nicht mehr davon lasten kann,
wenn man sie einmal gesehen hat.
Auch die Fremden, die in den Zirkus zum ersten¬
mal nur mit einem gewissen Schauder und nur, weil
sie sich als Reisende dazu verpflichtet fühlen, hinein¬
gehen, diese Fremden, sage ich, werden bald für die
Stierkämpfe ebenso leidenschaftlich begeistert wie die
Spanier selbst.
Erzählt doch der heilige Augustinus, daß er in
seiner Jugend eine starke Abneigung gegen die Gla-
diatoreukämpfe hatte, obwohl er sie nie gesehen. Als
er nun von einem seiner Freunde gezwungen wurde,
ihn zu einer dieser pomphaften Schlächtereien zu
begleiten, hatte er sich selbst geschworen, die Augen
wahrend der ganzen Zeit der Vorstellung zu schließen.
Zuerst hielt er auch sein Vorhaben sehr gut und
zwang sich, an etwas anderes zu denken; aber bei
einem Schrei, den das ganze Volk ausstieß, als es
einen berühmten Gladiatoren fallen sah, öffnete er
die Augen; er öffnete sie und konnte sie nicht wieder
schließen. Von da an und bis zu seiner Bekehrung
war er einer der leidenschaftlichsten Liebhaber der
Zirkusspiele.
Nach einem so großen Heiligen scheue ich mich, mich
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