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Er war also seit einigen Stunden weg, und der
kleine Fortunata lag ruhig in der Sonne ausgestreckt,
indem er die blauen Berge betrachtete und daran
dachte, daß er den nächsten Sonntag bei seinem Onkel,
dem Korporal*), in der Stadt zu Mittag speisen
würde, als er in seinen Betrachtungen durch den
Knall einer Feuerwaffe gestört wurde. Er stand aus
und wandte sich der Richtung der Ebene zu, woher der
Schall kam. Andere Schüsse folgten immer näher
und näher in ungleichen Zeiträumen; schließlich er¬
schien auf dem Pfad, der von der Ebene zum Hause
Mateos führte, ein Mann, der eine spitze Kappe, wie
man sie bei den Bergbewohnern findet, trug; er war
bärtig, in Lumpen gehüllt und schleppte sich mit Mühe
vorwärts, indem er sich auf sein Gewehr stützte. Er
hatte soeben einen Schuß in die Hüfte erhalten.
Dieser Mann war ein Bandit, der nachts aufge¬
brochen war, um Pulver in der Stadt zu kaufen, wo¬
bei er unterwegs in einen Hinterhalt korsischer Vol¬
tigeure fiel. Nach kräftiger Verteidigung war es ihm
gelungen, feinen Rückzug zu bewerkstelligen, bei dem
er lebhaft verfolgt wurde und selber von Fels zu
Fels zurückschoß. Aber er hatte wenig Vorsprung
vor den Soldaten, und seine Wunde setzte ihn außer¬
stande, das Maquis zu gewinnen, ohne eingeholt zu
werden.
Er näherte sich Fortunato und sagte ihm: „Du bist
der Sohn von Mateo Falcone?"
„Ja."
„Ich bin Gianetto Sanpiero. Ich werde von den
Gelbkragen verfolgt. Verbirg mich, denn ich kann
nicht mehr weit laufen."
„Und was wird der Vater dazu sagen, wenn ich
dich ohne Erlaubnis verstecke?"
„Er wird sagen, daß du recht getan hast."
„Wer weiß?"
„Verbirg mich schnell; sie kommen."
„Wart', bis mein Vater zurück ist."
„Warten! Verflucht! Sie sind in fünf Minuten
hier. Vorwärts, verbirg mich, oder ich töte dich."
Fortunato antwortete mit der größten Kaltblütig¬
keit: „Dein Gewehr ist entladen, und es sind keine
Patronen mehr in deiner Charchera" (eine Art Leder¬
gürtel, der als Patronentasche dient).
„Ich hab' noch mein Stilett."
„Aber wirst du auch so schnell laufen als ich?" Er
machte einen Sprung und befand sich außer Greif¬
weite.
„Du scheinst kein echter Sohn von Mateo Falcone!
Willst du mich vor seinem Haus verhaften lassen?"
Das Kind schien gerührt. „Was gibst du mir, wenn
ich dich verstecke?"
Der Bandit wühlte in einer ledernen Tasche, die an
seinem Gürtel hing, und zog ein Fünffrankstück
heraus, das er ohne Zweifel zurückbehalten hatte,
um Pulver zu kaufen. Fortunato lächelte freudig bei
*) Die „Korporale" waren ehemals die Häupter, die sich die kor¬
sischen Gemeinden wählten, wenn sie sich gegen dte Feudalherren er¬
hoben. Heute gibt man manchmal diesen Titel einem Mann, der
durch sein Vermögen, seine Verbindungen und seine Schupgenossen
einen Einfluß und eine Art faktischer Herrschaft Über eine „Pieve"
oder einen Bezirk ausübt. Die Korsen scheiden sich nach einer alten
Gewohnheit in fünf Kasten: die Edelleute (von denen die einen „hoch¬
gebietend", die anderen „signori" sind), die Korporale, die Bürger,
die Plebejer und die Fremden.
dem Anblick des Geldstückes; er griff danach und sagte j
zu Gianetto: „Fürchte nichts!"
Sofort machte er ein großes Loch in einem neben i
dem Hause liegenden Heuhaufen. Gianetto kroch )
hinein, und das Kind deckte ihn derart zu, daß er 1
etwas Luft zum atmen hatte, ohne daß es aber mög- l
lich gewesen wäre,. unter dem Heü einen Menschen |
zu vermuten. Zudem verfiel er auf einen ziemlich
erfinderischen und eines Wilden würdigen Kniff. Er
nahm eine Katze und deren Junge und legte sie
solcherweise auf das Heu, daß man annehmen mußte, '
es sei seit einiger Zeit nicht mehr gewendet worden.
Darauf deckte er die Blutspuren auf dem Pfad nahe
dem Hause sorgfältig mit Staub zu, worauf er sich
wieder mit der größten Ruhe in die volle Sonne
niederlegte.
Einige Minuten später standen sechs uniformierte
und in gelben Halskragen steckende Männer, die von
einem Adjutanten befehligt wurden, vor der Tür
Mateos. Dieser Adjutant war weitläufig mit Mateo
verwandt. (Es ist bekannt, daß man auf Korsika die
Grade der Verwandtschaft viel weiter verfolgt, als
irgend sonstwo.) Er hieß Tiodoro Gamba; er war
ein energischer Mann und von den Banditen, deren
er schon mehrere eingefangen hatte, sehr gefürchtet.
„Grüß Gott, kleiner Vetter", sagte er zu Fortunato,
indem er ihn freundlich anredete; „was bist du groß
geworden! — Hast du nicht eben einen Mann vorbei¬
kommen sehen?"
„O, ich bin noch nicht so groß wie chr, Vetter",
antwortete das Kind mit einfältiger Miene.
„Das wird schon kommen. Aber sag' doch, hast du
nicht einen Menschen vorbeikommen sehen?"
„Ob ich einen Menschen habe vorbeikommen sehen?"
„Ja, einen Mann mit einer spitzen schwarzen Samt¬
mütze und einer rot und gelb gestickten Weste?"
„Einen Mann mit einer spitzen Mütze und einer
rot und gelb gestickten Weste?"
„Ja, antworte schnell und wiederhole nicht immer
meine Fragen."
„Diesen Morgen ist der Herr Pfarrer an unserer
Tür vorbeigekommen, auf feinem Pferd Piero. Er
hat mich gefragt, wie's dem Vater ginge, und ich
hab' ihm geantwortet...."
Was, du kleiner Schlingel, du spielst den Schelm!
Los, sog' mir schnell, wo Gianetto hin ist, denn er
ist's, den wiü suchen; und ich bin sicher, er hat den
Pfad hierher genommen."
„Wer weiß?"
„Wer's weiß? Ich bin's, der es weiß, daß du ihn
gesehen hast."
„Sieht man Vorübergehende, wenn man schläft?"
„Du hast nicht geschlafen, Taugenichts; die Schüsse
haben dich geweckt."
„Ihr glaubt also, Vetter, daß eure Gewehre einen
solchen Lärm machten? Der Stutzen vom Vater
macht einen viel größeren."
„Der Teufel hol' dich, verfluchter Strick! Ich bin
ganz sicher, daß du Gianetto gesehen hast. Vielleicht
hast du ihn gar versteckt. Vorwärts, Kameraden, geht
hinein in das Haus und schaut nach, ob der Mensch
nicht dort ist. Er hinkte nur noch auf einem Bein,
und der Halunke hat zu viel Verstand, um zu ver¬
suchen, das Maquis hinkend zu gewinnen. Übrigens
enden hier die Blutspuren."