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hierbei war's gekommen, daß er sich den Arm gequetscht
hatte, so unglücklich, daß dieser nie wieder ganz geheilt
wurde und steif blieb für immer. Einen Meißel konnte
er nie wieder fuhren. Aber er hatte zuerst den Schmerz
verbissen und — den Arm in der Binde — nicht eher
geruht, bis sie hoch oben stand, die stolze Niktoria auf
her Porta triumphalis, dem Brandenburger Tor.
Er hatte sich zu trösten gewußt. Mit dem Rest
seiner kleinen Ersparnisse hatte er mit seiner Frau —
Kinder hatten sie nicht — einen kleinen Kunsthandel
in einem Parterreladen der Mauerstraße eröffnet,
der ihn vermöge seiner Bekanntschaft in Künsteerkreisen
schlecht und recht nährte. Sein Leben hatte eine starke
Wandlung erfahren, nur — ivas gleich geblieben
war, das war die unentwegte Liebe zu seiner Viktoria,
die er aus der Taufe gehoben. Kaum ein Tag ver¬
ging, daß er nicht den Weg zum Brandenburger Tor
zurücklegte, um einen Blick nach ihr zu werfen und
dann wieder vergnügt nach Hause zu gehen. Seine
Freunde und Bekannten neckten ihn, und bald hatte
er seinen Spitznamen weg: „Viktorias Liebster!"
Er machte sich nichts draus. Sie hatten kein
Verständnis für solche Dinge, gar keinen Idealismus
mehr, hatte er gesagt; kein Mensch kümmerte sich um
die stolze Viktoria da oben, die den Ruhm des Vater¬
landes repräsentieren sollte. Und im Grunde hatte er
Recht. Es war die Zeit des Niederganges von Preußen,
die Zeit, dader Kosmopolitismus seine Triumphe feierte,
da selbst berühntte Männer es für lächerlich und kin¬
disch hielten, national zu denken und zu fühlen. So
gleichgültig, wie man sich gegen die Viktoria zeigte,
so gleichgültig war man im großen und ganzen gegen
die Geschicke des Vaterlandes. Preußen war schnell
seinem Abgrunde entgegengeeilt. Ter Tag von Jena
war da, und dreizehn Tage später, am 27. Oktober
1806, zog der stolze Korse durch das Brandenburger Tor.
Er hatte unter den Zuschauern gestanden, die
Fäuste geballt und mit den Zähnen geknirscht; eine
heiße Blutwelle war ihm nach dem Herzen gegangen
und dann zum Kopf emporgestiegen, die ihm fast das
Hirn verwirrte. Ja, hätte er in diesem Augenblicke
eine Kugel im Lauf oder einen Dolch in seinem Wams
gehabt, er, der harmlose Peter Breuer, hätte können
zum Mörder werden an dem Weltherrscher, und wenn
es auch sein Letztes gewesen wäre. Aber wie ein
böser, gespenstischer Traum war die dämonische Gestalt
des „kleinen Korporal" mit dem wachsbleichen Gesicht
und den finstern, unheimlichen Augen vorüber. Hinter
ihm die glänzende Suite seiner Marschälle, sämtlich
wie aus Eisen gemeißelt. Peter Breuer blickte ihnen
nach, dann warf er einen ängstlichen Blick auf die
Viktoria hoch oben auf dem Brandenburger Tor. Ja,
sie war noch da; aber merkwürdig, wie ein banges,
banges Gefühls ging es durch seine Künstlerseele.
Künstler sind Schauer. Es war, als wäre seine Vik¬
toria da oben nicht mehr sicher, als müßte jener Mann
mit detn bösen Blick einst kommen und fte herunter¬
holen, jener Mann, der, — das wußte er — den Ruhm
keines anderen neben sich duldete, imd dem eine
Viktoria hoch über seinem Haupte in dem nieder¬
geworfenen Preußen unerträglich sein mußte.
Er war ein richtiger Prophet gewesen! Napoleon
hatte die stolze Quadriga gereizt.' Was ihn reizte,
das mußte er haben, und — der unglücklichste Tag
im Leben Peter Breuers war gekommen. — Es war
im Frühjahr 1807 gewesen — die Franzosenherrschast
lastete mit bleierner Schwere auf der Hauptstadt —
da hatte Peter Breuer einen seiner gewöhnlichen
Morgenspaziergänge nach dem Brandenburger Tor
gemacht. Ja, was war denn das? Scharen von
Menschen hatten den Pariser Platz besetzt. Auf das
Tor zu bewegten sich mehrere Wagen. Französische
Soldaten saßen darauf; einer von ihnen hieb wie
unsinnig auf die Pferde ein und wünschte auf frän¬
kisch tausend Donnerwetter auf die überanstrengten
Tiere und auf das „Lumpenpack" herab, das neugierig
die Wagen umgab. Freilich, Gesindel war genug
dabei. Berlin war verarmt, und Bettler und zer¬
lumpte Kinder trieben sich in jenen Tagen zu Hunderten
auf den Straßen und Plätzen umher, lungerten im
Lustgarten herum, dessen Eisenstangen man heraus¬
gebrochen hatte, um den täglichen Exerzitien der
französischen Garde besser zuschauen zu können.
Und heute gab es hier am Brandenburger Tor
viel zu schauen. Riesenleitern wurden herangeholt;
große Winden wurden hinauf geschafft auf das Tor;
es galt dem Raub der Viktoria.
Peter Breuer drängte sich vor; er war kreide¬
bleich; alles Blut strömte ihm zum Herzen. Mehr¬
mals drückte er mechanisch die Hand darauf, um das
furchtbare Pochen zu bändigen. Wie im Traun: sah
er den Fortgang der Arbeiten, wie man die einzelnen
Teile des Viergespanns herunterholte, sie in Kisten
packte; und endlich kam sie selbst, die göttliche Viktoria,
seine Viktoria, an der sein Herz hing, wie an einem
lebenden Wesen. Ist denn " niemand da, der dieser
rohen Gewalt entgegentreten kann? Niemand? Und
alle stehen stumm da; ja einige Tagediebe und
Straßenjungen nrachen noch ihre faulen Witze. Ahnte
denn niemand den schweren Verlust dieses Palladiums
der Freiheit, des Sieges, niemand als der arme Peter
Breuer? — Endlich hätte er eine Gruppe von Männern
gefunden, denen man es ansieht, wie schwer sie unter
dieser neuen Demütigung des Vaterlandes leiden.
Er sieht, wie sie die' Fauste ballen und die Zähne
knirschen. Da überwindet auch ihn sein Zorn. Er
tritt heran an die Gruppe. Wie ein Wutschrei ent¬
führtes seinem Munde: „Wollen wir denn nicht diesem
Gesindel das Handwerk legen?" ruft er laut. Er
sieht nicht die beschwichtigenden Blicke und Mienen
der Bürger; er hört nicht ihr warnendes „St!"
„Reden Sie sich nicht um Kopf und Kragen!"
„Bürger, Brüder!" schrie er ganz von Sinnen,
„wollen wir es wortlos, tatenlos dulden, daß man
unser größtes Heiligtum stiehlt? Wollen wir uns
nicht zusammenraffen-"
Er konnte nicht weitersprechen. Von hinten packte
ihn der Arm eines französischen Gendarmen mit festem
Griffe. Er wand sich vergebens unter der eisernen
Faust. Hochrot im Gesicht vor ohnmächtiger Wut,
schoß er giftige Blicke auf seinen Peiniger. „Verfluchte
französische Schufte! Spitzbuben! Mordbrenner!" Ein
Tritt in den Rücken war die Antwort des Gendarmen.
„Ist denn kein Mensch da, der mir hilft gegen
diese Bluthunde?" hatte JPeter Breuer verzweifelt
gerufen. Wohl johlten die Straßenjungen hinter ihnen
her. Verwegene Burschen von zweifelhaftem Aus¬
sehen ließen gellende Pfiffe ertönen; allein der Anblick
des französischen Militärs hielt sie in respektvoller
Ferne. Zudem hatten die meisten garnicht dem vollen
Umfang nach geahnt, was das Herz des guten Peter
Breuer hier bluten machte.
„Es ist der verrückte Kunstgießer!" sagte einer.
„Viktorias Liebster!" sagte ein anderer.