101
'te Hhrentafel.
Erzählung von Ernst von Hammer.
An einem Sonntagnachmittag stand der Musketier
Kart Giebel vor der Ehrentafel. Sie hing im Revier
seiner Kompagnie, der breiten steinernen Treppe gegen¬
über, und nahm sich im eichenen Rahmen, mit Waffen
und Fähnchen geschmückt, als einzigster Schmuck der
kahlen, weißen Wände sehr stattlich aus. Giebel schien
die Namen der Helden zu lesen, die hier verewigt
waren. Seine Augen gingen von oben nach unten
und dann wieder hinauf zu den dunkelgrünen Eichen¬
zweigen. welche die Namengruppen umkränzten. Hier
blieben sie haften. Allerlei krause Gedanken durchzogen
sein langsam denkendes Hirn. Der Bergwald der
Heimat fiel ihm ein. Die dunkle Eichenpracht sah er
vor sich. Das Rauschen der hundertjährigen Niesen
hörte er, unter denen er tagaus tagein die Axt ge¬
schwungen und es war ihm. als kreischten die Zähne
der Säge, dte er so oft durch Ast und Stamm auf
und nieder gestoßen
hatte. Und dann kam
auf einmal das Be¬
wußtsein zurück, daß
er in der Kaserne sri,
in des Königs Rock
und Flügelmann der
ersten Kompagnie.
„Kerls!" hatte
neulich sein Korporal- «
schaftsführer, Unter¬
offizier Notnagel, in
der Unterrichtsstunde
gesagt, „Kerls, so
einen freien Sonntag¬
nachmittag, den soll
ein Pflicht- und ehr¬
liebender Soldat nütz¬
lich anwenden. Da
hängt zum Beispiel
unsere Ehrentafel.
Die da drauf stehen,
die haben allezeit
treu und redlich ge- '
dient, und ihr, ihr
habt nur eben in den Königlichen Dienst hinein gerochen.
Daher ist es euch gut, wenn ihr euch vor die Ehren¬
tafel stellt und hört still zu, was die euch erzählen
kann. So könnt ihr es zu einem rechtschaffenen und
unverzagten Soldaten bringen. Und dir Giebel, du
langer Waldmensch, rate rch solches ganz besonders
väterlich. Montag früh um sieben Uhr mußt du von
dem kriegerischen Geist, der ans unserer Ehrentafel
weht, erfüllt sein! Verstanden?"
Nun stand Karl Giebel aus den Waldbergen
vor der Ehrentafel und wartete auf den kriegerischen
Geist. Wenn er nur wenigstens hätte lesen können!
Doch da haperte es sehr. War er doch als Armen¬
hauswaise in stetem Kampf mit dem Waldschulmeister
gewesen, bis er mit der Axt auf der Schulter in die
Berge entlief. So wäre ihm die Ehrentafel ein Buch
mit sieben Siegeln geblieben, wenn nicht der Eichen¬
kranz eine seltsam eindringliche Predigt gehalten hätte.
Ging nicht der Bergwind durch das grüne Eichenlaub?
Rauschten nicht die Zweige da, welche die Namen der
Toten umschatteten, als wenn die Blätter noch lebten
an den Aesten und Zweigen? Und rühmte ihr wehen¬
des Murmeln nicht Tag und Nacht die Helden, die
dort wie auf einem sttllen Friedhof ruhten?
„Das muß schön sein!" grübelte Karl Giebel,
starrte aus den Eichenkranz und spitzte die Ohren, als
könne er in der Sonntagsstille die Sprache der Wald¬
heimat verstehen. „Das muß schön sein! und ich — ich
will auch einmal auf dieser Tafel stehen!"
Nun war's heraus, was ihn schon oftmals inner¬
lich bewegt hatte. Endlich fanden sich die verworren
schwirrenden Gedanken zu einem festen Plan zusammen.
Aber ein hoher kühner Plan war's und es wollte den
einfachen Waldmenschen schier bedrücken, so hoch
hinaus gestrebt zu haben. Karl Giebel biß die
Zähne zusammen, um nicht kleinmütig zu werden,
denn der Weg war noch weit und an dem langen
Körper saßen unge¬
lenke Glieder und
im Kopfe wohnte ein
schwerfälliger Sinn.
Das hatten ihm ja
alle hier gesagt. Aber
wie, wenn nun kein
Krieg kam? Die da
auf der Ehrentafel
hatten doch alle in
der Schlacht ge¬
kämpft! „Zu Wasser
und zu Lande", hatte
Unteroffizier Not¬
nagel gesagt. Ja,
wenn nun kein Krieg
kam?
Darauf wußte
Giebel keine Antwort
zu finden und das
trübte ihm den Rest
des stillen Sonntag¬
nachmittags, dessen
Ergebnis für ihn so
wichtig werden sollte.
Dann marschierte eine lange, etwas wackelige Gestalt dröhnend vor und
hielt krampfhaft beide Hände an der Hosennaht.
Die Monate gingen dahin und brachten Woche für
Woche denselben Dienst. Wenns zu erreichen gewesen
wäre, wegen Überwindung von tausend Schwierigkeiten,
die sich dem ungelenken Waldmenschen in den Weg
stellten, einen Platz auf der Ehrentafel zu erringen,
Karl Giebel hätte sich einst am Ziele seiner Wünsche
sehen müssen. Aber immer wieder bekam er in gut¬
mütigem Spott zu höreu: „Giebel, du bist 'n Olkopp!"
Und doch machte er unmerklich Schritt für Schritt
vorwärts und tat mehr, als von ihm verlangt wurde;
er lernte lesen. Als er eines Tages den einjährig
dienenden Lehrer seiner Korporalschaft gebeten hatte,
ihm doch einmal die krausen Buchstaben der Helden¬
namen vorzulesen, da bot ihm dieser gegen Stiefelputz
und Rockausklopfen Unterricht an. Unser Waldmensch
strahlte vor Freude, als er zum erstenmal buchstabieren
konnte: „Wilhelm Hartmann, Musketier, vor Orleans
gefallen. Ehre seinem Andenken!"
„Giebel, was ist aus dir geworden?" forschte