— 96 —
Sanssouci war, wie alles Andere, noch unberührt
geblieben von dem Kalenderfrühling, war starr und
tot, und deshalb hatte es sein königlicher Herr vor¬
gezogen, mit der in der Regel Ende April bewirkten
Uebersiedelung nach Potsdam noch zu warten, und
war vielleicht zum ersten Mal seit seinem Regierungs¬
antritt in Berlin geblieben.
Der erste Mai, nicht freundlicher als alle die bis
dahin vergangenen Frühlingstage, war angebrochen
und warf seinen trüben Schatten auch auf die Stirn
des Königs, der den Tag nicht eben freundlicher be-
grüßte, als dieser ihn; und der diensthabende Kammer¬
diener, dessen geübtem Blick der Mißmut des Königs
nicht entgehen konnte, telegraphierte, um demselben
jeden Verdruß schon im Keime aus dem Wege zu
räumen, dem im Arbeitszimmer des Königs harrenden
Geheimkämmerer: „Vorsicht, Sturmwolken am Hori¬
zont!" Erschreckt inspizierte der Geheimkämmerer daS
Zimmer noch einmal auf daS Genaueste; es war
alles gut. Mit dem Blick eines Feldherrn übersah
er alles, es kehlte nichts, es war alles an seinem
Platze, alles in Ordnung; sein ängstliche- Gefühl
wandelte sich in Sicherheit, in Siegesgewißheit und
mit Ruhe erwartete er den König. Aber es fehlte
dennoch etwas, und der eintretende König hatte dies
sofort entdeckt. Mit Bestürzung sah der Geheim¬
kämmerer die schon auf de- Königs Stirn schwebende
Wolke finsterer werden, folgte mit steigender Angst
den forschend im Zimmer herumsuchenden Blicken deS
Königs, bemerkte mit starrem Entsetzen, daß der sonst
so gütige König auch nickt die geringste Notiz von
seinem demütigen Morgengruß, von seinem tiefsten