Full text: 1954 (0009)

Erinnerungen aus einem Arbeiterleben 
Johann Böhm,' ein führender Gewerk 
schafter der österreichischen, ober auch 
der internationalen Gewerkschaftsbe ze- 
gung, hat seine Lebenserinnerungen nie 
dergeschrieben. Die „Erinnerungen aus 
meinem Leben", erschien in im Verlag 
des österreichischen Ge.verkschaftsbun- 
des; geben ein aufschlußreiches Bild aus 
der Geschichte der Arbeiterbewegung,' 
das in seiner Bedeutung weit über den 
engen Rahmen einer Lebensbeschreibung 
hinausgeht. Wir entnehmen der Zeit 
schrift 7,Arbeit und Wirtschaft"* eine 
Besprechung mit Auszügen dieser inter 
essanten Memoiren und hoffen; daß Jo 
hann Böhm auch dem saarländischen Ge 
werkschafter etwas zu sagen hat. 
Johann Böhm,” der Präsident des Gewerk- 
Schaffsbundes und Zweite Präsident des öster 
reichischen Nationalrats, hat „Erinnerungen 
aus meinem Leben" niedergeschrieben). Sie 
reichen von den Tagen der frühesten Kind 
heit bis nahe an jenen ersten ordentlichen 
Kongreß des ÖGB heran, auf dem Jo 
hann Böhm zu dessen Präsidenten gewählt 
wurde. Es ist ein Buch, das man schon beim 
Lesen der ersten Seite liebgewinnt. Im Er 
zählerton wird die Geschichte dieses Lebens 
vorgetragen. Dieser Erzählerfon ist sehr un 
vollkommen charakterisiert, wenn man ihn als 
schlicht oder einfach bezeichnet. Er ist ver 
halten und das gibt ihm seinen hohen poeti 
schen Reiz, um den den Erzähler mancher 
Autor beneiden mag; der sich für einen Mei 
ster der Sprache hält. Es gibt wenige unter 
den Schriftstellern von Ruf, die es besser 
verstünden als Johann Böhm,’ eine Situation,’ 
ein Erlebnis mit sparsamen Worten anschau 
lich zu machen, ähnlich wie es einmal alte 
Meister des Griffels verstanden haben; im 
Holzschnitt mit wenigen Strichen in einfach 
ster Technik ein tief einprägsames Bild zu 
geben. 
Es war kein leichtes Leben, das da dem 
Leser mit der zögernden Zurückhaltung des 
Mannes erschlossen wird, dem es schwer 
fällt, Persönliches, Eigenstes vor den un 
bekannten Interessierten und Gleichgültigen 
auszusagen. Den Schlüssel zu dem Motiv,’ 
das ihn veranlaßfe, dennoch seine Lebens 
erinnerungen niederzuschreiben; geben erst 
die letzten Seiten des Buches: 
,,Ich habe noch mit angesehen, wie die 
Arbeiter völlig rechtlose und grenzenlos aus- 
gebeutefe Werkzeuge der Produktion gewe 
sen sind, jeder Unternehmerwillkür preisge- 
eben, völlig hilflos gegen die Folgen von 
rkrankungen, Unfällen; Arbeitslosigkeit, In 
validität und Alter. Sie haben ein vielfach 
härteres Leben geführt als die Sklaven des 
Altertums, für deren Ernährung wenigstens 
esorgt war. Immer wieder kommen mir bei 
etrachfung dieser Umstände meine Elfern ins 
Gedächtnis, deren ganzes Leben aus nichts 
anderem bestand als aus immerwährender Ar 
beit von früh bis spät, sonntags und wo 
chentags, und aus ständigen Sorgen (249): 
Gewiß ist der Arbeiter und Angestellte auch 
heute noch nicht auf Rosen gebettet, sein 
Leben ist noch kümmerlich genug Aber 
doch ist das Leben des heutigen Arbeiters 
mit dem des Arbeiters vor 60 Jahren in kei 
ner Weise mehr vergleichbar (250). Der 
scheue, schüchterne Sklave der Zeit, um die 
Jahrhundertwende ist zum selbstbewußten, 
klardenkenden Mitarbeiter im Betrieb auf- 
gerückf .;. Er nimmt an den Errungenschaf 
ten der Kultur; die früher einmal Besitztum 
einer dünnen Herrenschicht gewesen ist, tä 
tigen Anteil. Theater; Literatur; Musik sind 
ihm keine fremden Begriffe mehr" (251). 
1) Verlag des österreichischen Gewerk 
schaftsbundes, Wien 1953; 255 Seiten, Preis 
5 30—. 
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Das ist es, was Johann Böhm den Arbei 
tern von heute, die es nicht mehr mit an 
gesehen haben, die es kaum mehr glauben 
wollen; vor Augen führen will: den Auf 
stieg vom Lohnsklaven zum selbstbewußten; 
klardenkenden Mitarbeiter im Betrieb dank 
dem gewerkschaftlichen Zusammenschluß. 
Und nun einige Leseproben aus diesen 
Lebenserinnerunqen: 
'„In einem kleinen, weltabgeschiedenen 
Dörflein des niederösterreichischen Waldvier 
tels, in Stögersbach, wurde ich am 26. Jän 
ner 1886 geboren. Mein Vater war der 
Maurer Josef Böhm; und meine Mutter, sie 
hieß Marie; war landwirtschaftliche Hüfsar- 
beiferin" (47). 
Also Doppelverdiener sozusagen. Sehen wir 
zu, wie um dos Jahr 1890 Doppelverdiener 
gelebt haben. 
'„Ich erinnere mich noch lebhaft daran; 
wie meine Mutter; die uns Kindern nur schwer 
einen Wunsch versagen konnte,' erschreckt 
auf uns blickte, wenn wir über den Brot 
laib herfielen, und wie sie manches Mal; 
wenn ich im Begriffe war; mir ein zweites 
Stück Brot zu nehmen; mir in den Arm fiel 
und mir sagte: ;,Nimm nichts mehr vom Brot 
laib; iß lieber das Stück, das ich mir abge- 
schnitfen habe, ich mag es sowieso nicht 
mehr." Ich habe gedankenlos das zweite 
Stück entgegengenommen, ohne zu ahnen, 
daß meine Mutter noch viel nehr Hunger 
hatte als ich. 
Unser Mittagessen bestand in der Haupt 
sache aus Gemüse; das meine Mutter aut 
Für Ihre Gesundheit täglirfi , . . 
Tleufati^TTlaC^iec 
Kartoffeln — nicht zu verwechseln mit Milch 
suppe, die wir manchmal auch hatten, aber 
als Festessen. Fleisch gab es nur an Sonn- 
und hohen Feiertagen; ein halbes Kilo 
gramm, meist gekochtes Schweinefleisch, 
mußte für die sechsköpfige |r ami|ie genü 
gen" (10). 
Der Knabe mußte schon in frühem Alter in 
der kleinen Hauswirtschaft mitarbeifen; Brenn 
material — Klaubholz und Tannenzapfen — 
vom Walde heimbringen, aut dem Kartof- 
tel- und Rübenacker arbeiten: 7,Ich habe al 
so frühzeitig erkennen gelernt, was Arbeit 
bedeutet.'* 
Die Lichtblicke dieser Kindheit bot dem 
kleinen Johann die Schule. Er hatte das Glück; 
einen Lehrer zu finden, der sich seiner Wiß- 
begierde annahm, ihm nach der Schu'zeit 
ein weiteres Wissen erschloß. 
Was den Jungen von heute die Last ist,’ 
die ihnen Anspruch auf Freude gibt, war die 
Freude dieser kargen Jugend. Nicht *nur Jo 
hann Böhm schuldet dem Lehrer Le'denfrost 
Dank; er hat die Grundlagen ge'egt, aus 
denen die Persönlichkeit erwuchs, die sich 
für eine der wichtigsten Führungsposifionen im 
öffentlichen Leben Oesterreichs qualifizierte: 
Als Lehrling kam Johann Böhm — wie 
der ein Glücksfall; der ihm den Aufstieg 
ebnete — in die Großstadt; nach Wien. Die 
Schilderung; die er von seiner ersten Un 
terkunft in der Stadt; von der es hieß: „es 
dem gepachteten Kartoffelacker mH eingebaut 
hafte. Das Abendessen war Mehlsupoe mit 
gibt nur a Kaiserstadf, es gibt nur ein W : en" 
aufzeichnet, gibt einen Einblick in fie pro 
letarische Wirklichkeit jener Zeit: 
„Bei einer Eisenbahnerfamiiie; die mit zwei 
Kindern in einer Zimmer-Küche-Wohnung hau 
ste, fanden mein Vafer und : ch Unterkunft 
Freilich, unsere gemeinsame Schlafstelle war 
ein Notbetf in der dunklen Gangküche, rlas 
abends immer aufgestellt und ftühmorgens 
entfernt wurde. Es bot so w»nig Platz, daß 
wir immer eng aneinandergeschmiegt liegen 
mußten" (18). 
Die Lehrzeit, die er absolvierte, und d'ü 
Arbeitsverhältnisse; die er vorfand, charak-, 
terisieren wenige Sätze: 
„Meine Hoffnung, in Wien erträgliche 
Arbeifsverhältnisse vorzufind ;n, wurde senon 
am ersten Tag völlig enttäuscht .. . dafür 
aber war die Behandlung, die ich erfuhr; 
geradezu unmenschlich" (21). 
„Auf der Baustelle auf der ich’ im 
Frühjahr 1900 beschäftigt war, v *ar von der 
Menschwerdung der Bauarbeiter damals noch 
nichts zu erkennen. Uebrigens auch -u* an 
deren Baustellen nicht Die Arbeitszeit (des 
Lehrlings!) währte von 7 Uhr früh bis 6, Uhr 
abends, auch an Samstagen, jnd ich hatte 
nach Arbeifsschluß mit meinen drei übrigen 
Lehrlingskollegen noch überdies das auf cer 
Baustelle herumliegende Werkzeug zusanlmen- 
zufragen und in der Zeughüfte zu deponie 
ren Für das Werkzeugzusammentragen;| 
das außerhalb der normalen Arbeitszeit ' zu 
mindest noch eine Stunde in Anspruch nahm; 
erhielten wir selbstverständlich keine beso 
dere Bezahlung. Mein Arbeitslohn betrug 
Tag 90 Kreuzer, der meines Vaters 1 Gu 
den und 70 Kreuzer. Nebenbei bemerkt, war 
sowohl der Lohn meines Vaters wie auch mei 
ner verhältnismäßig hoch" (27/28). 
Am 23. Mai 1905, vor mehr als 50 Jahren; 
meldete Böhm seinen Beifritt zur Gewerk 
schaft. „Ich habe ihr von diesem Tag an bis 
heute ununterbrochen angehörf" (48). Im 
nächsten Jahr nimmt er,' mit 18 Jahren schon 
Obmann der Ortsgruppe,' der er beigefrefen 
war, an der ersten Lohnbewegung feil. Hier 
ihre Forderungen; an ihnen kann man ab 
messen, unter welchen Verhältnissen die Ar 
beiter damals lebfen: 
„Neben dem Taglohn von 4 Kronen I at 
die Gewerkschaft auch verlangt, daß auf 
jeder Baustelle eine sogenannte Baubude, ein 
Raum, in dem die Arbeiter ihr Handwerks 
zeug und eventuell auch Ueberkleider auf- 
bewahren konnten, eingerichtet werden solle; 
ja die Gewerkschaften gingen -ogar so weit; 
zu verlangen, daß in dieser Baubude auch 
Bänke und Tische, freilich aus rohen und zu 
sammengenagelten Brettern, aufgesfellf wer 
den sollten, um auf diese Weise den Arbei 
tern die Möglichkeit zu bieten, ihre Mahl 
zeiten in einem geschlossenen Raum einneh*^ 
men zu können. Allerdings haben manch* 
Arbeiter dieses Verlangen und auch den 
Wunsch; daß die Bude eine versperrbare Tür 
besitzen solle, als etwas übertrieben bezeich 
net. Es wäre besser, meinten sie, wenn man 
sich auf vernünftige Forderungen beschränken 
würde. 
Weiter wurde gefordert, daß den Polie 
ren untersagt werden solle; Arbeiter zu be 
schimpfen oder zu mißhandeln oder Erwach 
sene mit '„du” anzusprechen Auf jeder 
Baustelle sollten, getrennt nach Geschlech 
tern, Aborte mit verschließbaren Türen auf- 
gestellt werden" (51). 
„Heute mag es vielen Menschen merk 
würdig erscheinen"; meint dazu der Autor; 
T,daß diese so selbstverständlichen Wünsche 
der Arbeiter mittels Streik durchgesefzt wer 
den mußten, aber zu jener Zeit haben die 
^Arbeitgeber" ihre Arbeiter ja nicht als Men 
schen betrachtet . : Das Schlimmste an die 
sen Zuständen war wohl; daß; von wenigen 
i,Stänkerern" abgesehen; die Arbeiter dies 
selbst als unvermeidlich betrachteten. „Es 
hat immer Herren und Knechte gegeben"; 
war die ständig wiederkehrende Redensart 
der Arbeiter selbst" (52). 
Zusammen mit einem Freund hatte Johann 
Böhm damals in Hernals bei der Witwe eines 
(Fortsetzung auf Seite 9)
	        
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