Erinnerungen aus einem Arbeiterleben
Johann Böhm,' ein führender Gewerk
schafter der österreichischen, ober auch
der internationalen Gewerkschaftsbe ze-
gung, hat seine Lebenserinnerungen nie
dergeschrieben. Die „Erinnerungen aus
meinem Leben", erschien in im Verlag
des österreichischen Ge.verkschaftsbun-
des; geben ein aufschlußreiches Bild aus
der Geschichte der Arbeiterbewegung,'
das in seiner Bedeutung weit über den
engen Rahmen einer Lebensbeschreibung
hinausgeht. Wir entnehmen der Zeit
schrift 7,Arbeit und Wirtschaft"* eine
Besprechung mit Auszügen dieser inter
essanten Memoiren und hoffen; daß Jo
hann Böhm auch dem saarländischen Ge
werkschafter etwas zu sagen hat.
Johann Böhm,” der Präsident des Gewerk-
Schaffsbundes und Zweite Präsident des öster
reichischen Nationalrats, hat „Erinnerungen
aus meinem Leben" niedergeschrieben). Sie
reichen von den Tagen der frühesten Kind
heit bis nahe an jenen ersten ordentlichen
Kongreß des ÖGB heran, auf dem Jo
hann Böhm zu dessen Präsidenten gewählt
wurde. Es ist ein Buch, das man schon beim
Lesen der ersten Seite liebgewinnt. Im Er
zählerton wird die Geschichte dieses Lebens
vorgetragen. Dieser Erzählerfon ist sehr un
vollkommen charakterisiert, wenn man ihn als
schlicht oder einfach bezeichnet. Er ist ver
halten und das gibt ihm seinen hohen poeti
schen Reiz, um den den Erzähler mancher
Autor beneiden mag; der sich für einen Mei
ster der Sprache hält. Es gibt wenige unter
den Schriftstellern von Ruf, die es besser
verstünden als Johann Böhm,’ eine Situation,’
ein Erlebnis mit sparsamen Worten anschau
lich zu machen, ähnlich wie es einmal alte
Meister des Griffels verstanden haben; im
Holzschnitt mit wenigen Strichen in einfach
ster Technik ein tief einprägsames Bild zu
geben.
Es war kein leichtes Leben, das da dem
Leser mit der zögernden Zurückhaltung des
Mannes erschlossen wird, dem es schwer
fällt, Persönliches, Eigenstes vor den un
bekannten Interessierten und Gleichgültigen
auszusagen. Den Schlüssel zu dem Motiv,’
das ihn veranlaßfe, dennoch seine Lebens
erinnerungen niederzuschreiben; geben erst
die letzten Seiten des Buches:
,,Ich habe noch mit angesehen, wie die
Arbeiter völlig rechtlose und grenzenlos aus-
gebeutefe Werkzeuge der Produktion gewe
sen sind, jeder Unternehmerwillkür preisge-
eben, völlig hilflos gegen die Folgen von
rkrankungen, Unfällen; Arbeitslosigkeit, In
validität und Alter. Sie haben ein vielfach
härteres Leben geführt als die Sklaven des
Altertums, für deren Ernährung wenigstens
esorgt war. Immer wieder kommen mir bei
etrachfung dieser Umstände meine Elfern ins
Gedächtnis, deren ganzes Leben aus nichts
anderem bestand als aus immerwährender Ar
beit von früh bis spät, sonntags und wo
chentags, und aus ständigen Sorgen (249):
Gewiß ist der Arbeiter und Angestellte auch
heute noch nicht auf Rosen gebettet, sein
Leben ist noch kümmerlich genug Aber
doch ist das Leben des heutigen Arbeiters
mit dem des Arbeiters vor 60 Jahren in kei
ner Weise mehr vergleichbar (250). Der
scheue, schüchterne Sklave der Zeit, um die
Jahrhundertwende ist zum selbstbewußten,
klardenkenden Mitarbeiter im Betrieb auf-
gerückf .;. Er nimmt an den Errungenschaf
ten der Kultur; die früher einmal Besitztum
einer dünnen Herrenschicht gewesen ist, tä
tigen Anteil. Theater; Literatur; Musik sind
ihm keine fremden Begriffe mehr" (251).
1) Verlag des österreichischen Gewerk
schaftsbundes, Wien 1953; 255 Seiten, Preis
5 30—.
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Das ist es, was Johann Böhm den Arbei
tern von heute, die es nicht mehr mit an
gesehen haben, die es kaum mehr glauben
wollen; vor Augen führen will: den Auf
stieg vom Lohnsklaven zum selbstbewußten;
klardenkenden Mitarbeiter im Betrieb dank
dem gewerkschaftlichen Zusammenschluß.
Und nun einige Leseproben aus diesen
Lebenserinnerunqen:
'„In einem kleinen, weltabgeschiedenen
Dörflein des niederösterreichischen Waldvier
tels, in Stögersbach, wurde ich am 26. Jän
ner 1886 geboren. Mein Vater war der
Maurer Josef Böhm; und meine Mutter, sie
hieß Marie; war landwirtschaftliche Hüfsar-
beiferin" (47).
Also Doppelverdiener sozusagen. Sehen wir
zu, wie um dos Jahr 1890 Doppelverdiener
gelebt haben.
'„Ich erinnere mich noch lebhaft daran;
wie meine Mutter; die uns Kindern nur schwer
einen Wunsch versagen konnte,' erschreckt
auf uns blickte, wenn wir über den Brot
laib herfielen, und wie sie manches Mal;
wenn ich im Begriffe war; mir ein zweites
Stück Brot zu nehmen; mir in den Arm fiel
und mir sagte: ;,Nimm nichts mehr vom Brot
laib; iß lieber das Stück, das ich mir abge-
schnitfen habe, ich mag es sowieso nicht
mehr." Ich habe gedankenlos das zweite
Stück entgegengenommen, ohne zu ahnen,
daß meine Mutter noch viel nehr Hunger
hatte als ich.
Unser Mittagessen bestand in der Haupt
sache aus Gemüse; das meine Mutter aut
Für Ihre Gesundheit täglirfi , . .
Tleufati^TTlaC^iec
Kartoffeln — nicht zu verwechseln mit Milch
suppe, die wir manchmal auch hatten, aber
als Festessen. Fleisch gab es nur an Sonn-
und hohen Feiertagen; ein halbes Kilo
gramm, meist gekochtes Schweinefleisch,
mußte für die sechsköpfige |r ami|ie genü
gen" (10).
Der Knabe mußte schon in frühem Alter in
der kleinen Hauswirtschaft mitarbeifen; Brenn
material — Klaubholz und Tannenzapfen —
vom Walde heimbringen, aut dem Kartof-
tel- und Rübenacker arbeiten: 7,Ich habe al
so frühzeitig erkennen gelernt, was Arbeit
bedeutet.'*
Die Lichtblicke dieser Kindheit bot dem
kleinen Johann die Schule. Er hatte das Glück;
einen Lehrer zu finden, der sich seiner Wiß-
begierde annahm, ihm nach der Schu'zeit
ein weiteres Wissen erschloß.
Was den Jungen von heute die Last ist,’
die ihnen Anspruch auf Freude gibt, war die
Freude dieser kargen Jugend. Nicht *nur Jo
hann Böhm schuldet dem Lehrer Le'denfrost
Dank; er hat die Grundlagen ge'egt, aus
denen die Persönlichkeit erwuchs, die sich
für eine der wichtigsten Führungsposifionen im
öffentlichen Leben Oesterreichs qualifizierte:
Als Lehrling kam Johann Böhm — wie
der ein Glücksfall; der ihm den Aufstieg
ebnete — in die Großstadt; nach Wien. Die
Schilderung; die er von seiner ersten Un
terkunft in der Stadt; von der es hieß: „es
dem gepachteten Kartoffelacker mH eingebaut
hafte. Das Abendessen war Mehlsupoe mit
gibt nur a Kaiserstadf, es gibt nur ein W : en"
aufzeichnet, gibt einen Einblick in fie pro
letarische Wirklichkeit jener Zeit:
„Bei einer Eisenbahnerfamiiie; die mit zwei
Kindern in einer Zimmer-Küche-Wohnung hau
ste, fanden mein Vafer und : ch Unterkunft
Freilich, unsere gemeinsame Schlafstelle war
ein Notbetf in der dunklen Gangküche, rlas
abends immer aufgestellt und ftühmorgens
entfernt wurde. Es bot so w»nig Platz, daß
wir immer eng aneinandergeschmiegt liegen
mußten" (18).
Die Lehrzeit, die er absolvierte, und d'ü
Arbeitsverhältnisse; die er vorfand, charak-,
terisieren wenige Sätze:
„Meine Hoffnung, in Wien erträgliche
Arbeifsverhältnisse vorzufind ;n, wurde senon
am ersten Tag völlig enttäuscht .. . dafür
aber war die Behandlung, die ich erfuhr;
geradezu unmenschlich" (21).
„Auf der Baustelle auf der ich’ im
Frühjahr 1900 beschäftigt war, v *ar von der
Menschwerdung der Bauarbeiter damals noch
nichts zu erkennen. Uebrigens auch -u* an
deren Baustellen nicht Die Arbeitszeit (des
Lehrlings!) währte von 7 Uhr früh bis 6, Uhr
abends, auch an Samstagen, jnd ich hatte
nach Arbeifsschluß mit meinen drei übrigen
Lehrlingskollegen noch überdies das auf cer
Baustelle herumliegende Werkzeug zusanlmen-
zufragen und in der Zeughüfte zu deponie
ren Für das Werkzeugzusammentragen;|
das außerhalb der normalen Arbeitszeit ' zu
mindest noch eine Stunde in Anspruch nahm;
erhielten wir selbstverständlich keine beso
dere Bezahlung. Mein Arbeitslohn betrug
Tag 90 Kreuzer, der meines Vaters 1 Gu
den und 70 Kreuzer. Nebenbei bemerkt, war
sowohl der Lohn meines Vaters wie auch mei
ner verhältnismäßig hoch" (27/28).
Am 23. Mai 1905, vor mehr als 50 Jahren;
meldete Böhm seinen Beifritt zur Gewerk
schaft. „Ich habe ihr von diesem Tag an bis
heute ununterbrochen angehörf" (48). Im
nächsten Jahr nimmt er,' mit 18 Jahren schon
Obmann der Ortsgruppe,' der er beigefrefen
war, an der ersten Lohnbewegung feil. Hier
ihre Forderungen; an ihnen kann man ab
messen, unter welchen Verhältnissen die Ar
beiter damals lebfen:
„Neben dem Taglohn von 4 Kronen I at
die Gewerkschaft auch verlangt, daß auf
jeder Baustelle eine sogenannte Baubude, ein
Raum, in dem die Arbeiter ihr Handwerks
zeug und eventuell auch Ueberkleider auf-
bewahren konnten, eingerichtet werden solle;
ja die Gewerkschaften gingen -ogar so weit;
zu verlangen, daß in dieser Baubude auch
Bänke und Tische, freilich aus rohen und zu
sammengenagelten Brettern, aufgesfellf wer
den sollten, um auf diese Weise den Arbei
tern die Möglichkeit zu bieten, ihre Mahl
zeiten in einem geschlossenen Raum einneh*^
men zu können. Allerdings haben manch*
Arbeiter dieses Verlangen und auch den
Wunsch; daß die Bude eine versperrbare Tür
besitzen solle, als etwas übertrieben bezeich
net. Es wäre besser, meinten sie, wenn man
sich auf vernünftige Forderungen beschränken
würde.
Weiter wurde gefordert, daß den Polie
ren untersagt werden solle; Arbeiter zu be
schimpfen oder zu mißhandeln oder Erwach
sene mit '„du” anzusprechen Auf jeder
Baustelle sollten, getrennt nach Geschlech
tern, Aborte mit verschließbaren Türen auf-
gestellt werden" (51).
„Heute mag es vielen Menschen merk
würdig erscheinen"; meint dazu der Autor;
T,daß diese so selbstverständlichen Wünsche
der Arbeiter mittels Streik durchgesefzt wer
den mußten, aber zu jener Zeit haben die
^Arbeitgeber" ihre Arbeiter ja nicht als Men
schen betrachtet . : Das Schlimmste an die
sen Zuständen war wohl; daß; von wenigen
i,Stänkerern" abgesehen; die Arbeiter dies
selbst als unvermeidlich betrachteten. „Es
hat immer Herren und Knechte gegeben";
war die ständig wiederkehrende Redensart
der Arbeiter selbst" (52).
Zusammen mit einem Freund hatte Johann
Böhm damals in Hernals bei der Witwe eines
(Fortsetzung auf Seite 9)