Full text: 1954 (0009)

Aktive Konjunkturpolitik und Gewerkschaften 
Nachdem die dringlichsten Wiederaufbau 
probleme der europäischen Wirtschaft ge 
löst sind, wird immer wieder die Befürchtung 
laut, daß es nun an den volkswirtschaftlichen 
Aufgaben und damit an den Impulsen fehlen 
'•önnfe, die erforderlich sind, um die Wirf- 
tjiaft in Gang zu halten, die noch arbeifs- 
c ; en, aber auch die sich Jahr für Jahr zu- 
nVicR anbietenden Arbeitskräfte zu beschäf- 
** n 
ft mag dahingestellt bleiben, ob daiPrcb- 
V. der volkswirtschaftlichen Aufgaben nicht 
S r "haupt ein Pseudoproblem ist. Im euro- 
chen Wirfschaftsraum steht es außerhalb 
jeder Ciskussion. Nicht nur, daß ein Woh- 
nungsdefizif zu beseitigen ist, das in die 
Millionen geht, in verschiedenen Wirfschafts- 
be'eichen sind Ersatz- und Rationalisierungs- 
maßnahmen ungewöhnlichen Umfangs zu lö 
sen. Erinnert sei nur an die allmählich nicht 
mehr oufzjschjebende Erneuerung des Eisen 
bahnoberbaus, an die düngende Rationalisie 
rung der Grundstoff- und Exporfindustrien. 
S nd die Aufgaben vorhanden, s- stellt sich 
* ch das Problem: welche Kräfte gewillf und 
*-•'1 der Lage sind, sie in Angriff zu nehmen. 
Dieses Problem erscheint heute dringlicher 
denn je, da man in der Beurteilung der wei- 
* ‘■ren Wirtschaffsentwick'unq unsicher gewor- 
► en ist und jede wirtschaftliche Aktivität mit 
?inem erhöhten Risiko belastet zu sein scheint. 
Die Wirtschaftswissenschaft ist zumeist un 
bewußt zu der Erkenntnis vorgedrungen, daß 
es mit dem ökonomischen Prinzip, d. h. mit 
Die nach dem Zusammenbruch neu gebil 
deten Wirtschaftsverbände und Fachorgani 
sationen haben, — wie das Wirtschafts 
wissenschaftliche Institut der 
Gewerkschaften im Dezember- 
Heft seiner „Mitteilungen" schreibt; 
vermutlich in Denkanlehnung an die von den 
Militärregierungen aufgelösten Wirfschafts- 
^\ruppen und Ringen, wirtschaftliche Funk- 
"-sionen übernommen, deren Umfang und In 
tensität berechtigen, von einer Politisierung 
der Wirtschaft zu sprechen. Ihre den Ge 
sandtschaften vergeichbaren Interessenvertre 
tungen am Sitze der Regierung gestatten es; 
wirtschaftliche Vorteile auf dem Gebiete des 
Wirtschaffsrechts, der Steuer- und Zollpolitik 
wahrzunehmen, wobei das Verbands- oder 
Brancheninteresse geschickt mit dem Allge 
meininteresse identifiziert wird. Umgekehrt 
findet es die staatliche Verwaltung bequem; 
sich des Rates dieser Vertretungen zu be 
dienen. Wirtschaftliche Erfolge von Betrieben 
sind oft weniger das Ergebnis eigener An 
strengungen als das Resultat von Verbands 
arbeit. Der staatliche Ressortleiter wird nicht 
mehr als Beamter, sondern als Sachwalter 
der Verbandsinteressen gewertet. Auch das 
Parlament wird als Raum für wirtschaftliche 
Interessenvertretung betrachtet und demzu 
folge mit steigender Fachbesetzung entpoliti 
siert. 
Ebenso bedeutsam wie die wirtschaftspoli 
tischen sind die privatwirtschaftlichen Funk 
tionen der Verbände, soweif sie die wirt 
schaftlichen Interessen ihrer Mitglieder als 
dem vorsichtigen und vorsorglichen Haushal 
ten, allein nicht getan ist. Gleich wichtig ist 
das virtuelle Prinzip; sind die expansiven, 
die tortschriftlichen Kräfte; die über die ge 
gebenen Möglichkeiten hinaus vorstoßen; da 
mit aber neue und größere Entwicklungen ein 
leiten. Träger des virtuellen Prinzips — 
schreibt das Wirtschaftswissenschaftliche Insti 
tut der Gewerkschaften im Dezember-Heft der 
„Mitteilungen" — kann der Unternehmer sein; 
Träger kann aber auch der Staat sein; er 
übernahm es, als in der großen Krise der 30er 
Jahre die Unternehmerinitiative versagte. 
Aber weder die Unternehmerschaft noch 
der Staat können den Anspruch erheben, die 
einzigen und ausschließlichen Exponenten des 
wirtschaftlichen Fortschritts zu sein So sle- 
hen heute die Gewerkschaften vor der Frage, 
ob und wieweit es nicht ihre Aufgabe ist, 
die Verantwortung für die gesamtwirtschaft 
liche Entwicklung zumindest mit zu überneh 
men. Es kann durchaus sein, daß es einer 
expansiven Lohnpo'ifik bedarf, nicht nur, um 
den Lebensstandard der Werktätigen zu he 
ben, sondern um die Konjunktur abzuschir 
men und die Vollbeschäftigung zu sichern. 
Die amerikanischen Gewerkschaften haben 
mit Rücksicht auf einen möglichen Konjunk- 
tureinbruch diese Verantwortung übernommen. 
Sie fordern, daß die abklingende Rüstungs 
konjunktur in eine Konsumkonjunkfur über- 
geleifet wird. Den europäischen Gewerk 
schaften könnte sich in der übersehbaren Zu 
kunft eine ähnliche Aufgabe stellen. 
gemeinsame und einheitliche Aufgabe wahr 
nehmen. Entgegen den Grundsätzen einer 
Verkehrswirtschaft wird ein Preiswetfbewerb 
nur bejaht, wenn er sich zwischen Gruppen 
und Branchen, nicht aber von Betrieb zu 
Betrieb auswirkt. Handels- und Gewinnspannen 
werden kollektiv festgesetzt. Der „freie 
Markt" ist in die Sitzungszimmer der Ver 
bände verlegt, an die Stelle des Einzelwett 
bewerbs ist ein Gruppenwettbewerb ohne rui 
nöse Tendenz getreten. 
Diese Feststellungen könnten durch den 
Hinweis auf die Diskussion über die Kartell 
frage ergänzt werden. Der Internat. Gewerk 
schaffsbund hat wiederholt auf der Wider 
spruch zwischen dem Iheorefisierenden Dog 
matismus des Neoliberalismus und der wirt 
schaftlichen Praxis verwiesen, ebenso Ist 
seine Stellungnahme zur Karteüfrage bekannt) 
Diesen strukturellen Prozessen der Organik 
sation der Wirtschaft und ihrer Wirfschafts-t 
politik - gegenüber ergibt sich die gewerkt 
schaftlich notwendige Lohnpolitik von selbst) 
Die gegenwärtige Lage der europäischen 
Wirtschaft macht eine dynamische Lohnpolitik 
zu einer zwingenden wirtschaftlichen Not-f 
Wendigkeit. Der Wiederaufbau und die Mo-^ 
dernisierung der Betriebe nähern sich einen 
normalisierenden Investitionstätigkeit. In einem 
sogenannten marktwirtschaftlichen System ist 
jede expandierende Wirtschaft von der Ge-i 
fahr bedroht, daß die Nachfrage hinter dem 
Warenangebot zurückbleibt. Daher bedarf es 
einer Konjunkfurpolitik; die sicherstem, daß 
das volkswirtschaftliche Gleichgewicht gewahrt 
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bleibt. Diese Konjunkfurpolitik ist durch ein* 
aktive Strukfurpolitik zu ergänzen; um all* 
verfügbaren Arbeitskräfte und ihren Zuwach* 
zum Einsatz zu bringen; Sowohl für ein* 
aktive Konjunktur — wie auch Strukfurpolitik 
ist die Lohnpolitik eines dar wichtigsten (n-4 
strumente. 
Die Lohnpolitik darf nicht allein dynamisch? 
sie muß auch expansiv sein. Sie darf sich 
nicht damit begnügen, 1 den Reallohn an di« 
volkswirtschaftliche Entwicklung nachträglich 
heranzubringen. Sie muß versuchen, die wirt-t 
schaftliche Expansion von sich aus zu for-4 
eieren, um durch bewußte Kraftsfeigerung 
eine Ausweitung der Produktion herauszu-t 
fordern. Die USA sind hierfür ein lehrreiche! 
Vorbild. Eine expansive Lohnpolitik ist zu*t 
gleich das wirksamste Mittel, die Betrieb* 
laufend zu höherer Rationalität arßuhalfen; di* 
Produktivität zu steigern und damit die LohrH 
expansion zu fundamentieren. 
Tempo und Höhe der lohnpolitischen For-t 
derungen haben sich in Anlehnung an di* 
vorher skizzierte Gruppenkonkurrenz nach der< 
jeweiligen Verhältnissen dieser Gruppen, BrarH 
chen oder Großunternehmen und ihrer sfruk-1 
fure.llen Fortschrittsrate zu orientieren. 
(Presseauszug aus >,Mitteilungen" des WirM 
schaffswissenschaftlichen Instifuts der Gewerk-j 
schaffen, Heft 12, 1953). 
* 
Expansive Lohnpolitik
	        
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