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Mitglieder Speechen:
Gerechte Ordnung unseres Zusammenlebens
„Wer’s Recht hat und Geduld, für den kommt
auch die Zeit!“ Goethe (Faust II Teil)
Dieser Ausspruch des größten deutschen
Dichters und Denkers birgt soviel Weisheit
und hoffnungsvolle Gewißheit, daß man ihn
jedem schaffenden Menschen« der heute mit
unter im Kampf um sein Recht und die Ge
staltung der Zukunft verzagen möchte, immer
wieder Zurufen sollte. Die Geschichte der
Menschheit und die Geschichte des sozialen
Kampfes besteht meist aus Rückschlägen und
Niederlagen und doch ist es immer wieder
ein kleines Stückchen weiter vorwärts gegan
gen in der Richtung auf das Endziel, der ge
rechten Beteiligung aller schaffenden Men
schen an den Gütern und Freuden dieser
Erde. Noch ist allerdings ein weiter Weg
zurückzulegen! Im Augenblick sieht es so
aus, als stünde die Arbeiterbewegung im
Kampf um die soziale Gerechtigkeit in den
großen Industriestaaten unserer Zeit, vor
allem in Europa, vor sehr schweren Kämpfen
und Auseinandersetzungen. Die Entwicklung
der Technik und Zivilisation in den moder
nen Industriestaaten drängt auf die Klärung
und Lösung der sozialen Frage.
Die Lösung und Klärung dieser Frage kann
aber nur dann Erfolg haben und nur dann zu
eurer gewissen Stabilität führen, wenn, sie nach
geredeten Gesichtspunkten erfolgt. Die sich
heute darbietende Entwicklung der sozialen
Struktur einer ständig zunehmenden Verar
mung der breiten Massen auf der.einen Seite
und der ständig zunehmenden Anhäufung
von Reichtum und Luxus bei den oberen
Zehntausend auf der anderen Seite, kann nur
zu Katastrophen und schwersten Erschütte
rungen unserer westlichen Welt führen. Die
Quelle dieses ungesunden und gefährlichen
Zustandes liegt zunächst mal begründet in
den Auswirkungen der beiden verheerenden
Weltkriege, die über Europa und die Welt
binweggegangen siucl. Sie haben am schwer
sten den kleinen Mann, den Arbeitnehmer
getroffen, sein Häuschen und sein Hausrat
gingen restlos verloren, seine Spargroschen
gingen ebenfalls zum Teufel und zwar inner
halb von 25 Jahren zwei mal. Was übrig
blieb, waren, wenn er Glück hatte, seine
heilen Glieder und das nackte Leben. Die
wenigen, die Vermögenswerte,, Besitzungen
usw. retten oder auf Kosten der anderen
(aus Steuergeldern usw.) oft auf nicht allzu
saubere Weise. Kredite ergattern konnten,
nutzten als- Unternehmer ihre Machtposition
allergrößten teils rücksichtslos aus und bean
spruchtem den Gewinn aus der wiederanlau-
f enden Produktion und dem Wiederaufbau
in der Hauptsache liir sich. Der Arbeitnehmer
bekam gerade soviel, daß er sich Kleidung
und Essen anscltaffen konnte um Weiterarbei
ten zu können. In diesem Zustand verharren
wir praktisch heute noch, 9 Jahre nach Kriegs
ende. Der eigentliche Verlierer des letzten
und des vorletzten Krieges war der kleine
Mann, d. h. der Arbeitnehmer und zwar in
alle' .Nationen. Man ist bereits wieder dabei
Armeen aufzustellen, und wenn man ihm
keine zufriedenstellende Antwort auf die Fra
gen warum und wofür gibt oder geben kann/
dann is! es schlecht bestellt um die euro
päische Verteidigung!
Das Recht des Arbeitnehmers auf ein le
benswertes Leben wird man ihm öffentlich
wohl kaum bestreiten können, ebensowenig
seine schon beinahe sprichwörtliche Geduld.
Wer Augen hat zu sehen, der muß erkennen,
daß es Zeit ist etwas Definitives zu tun. Der
schaffende Mensch kann nicht ewig die zu
melkende Kuh für die nicht produktiven
Geschäftemacher darstellen, sondern es ist
höchste Zeit, daß er seinen Leistungen ent
sprechend auch am Sozialprodukt beteiligt
wird. Es ist kein tragbarer Zustand, wenn
ein Schwarm von Zwischenhändlern mit einem
Federstrich an einer Ware 50, 100% und mehr
verdient, während derjenige, der diese Ware
schafft, höchstens mit 10 oder 15% daran
beteiligt ist. Hiermit ist aber nur ein Pro
blem oder ein Umstand aufgeführt, dessen
soziale Ungerechtigkeit zum Himmel schreit!
Erhältlich in alltn A5X0 Verteilungutellen Saarland««
Soziale Gerechtigkeit ist aber die absolut
notwendige Grundlage für jedes Zusammen
leben einer Gesellschaft oder Gemeinschaft;
mit anderen Worten: jedes Mitglied dieser
Gemeinschafl, ob es sich dabei nun um ein
Volk, eine Nation, einen Staat oder Staalen-
bund handelt, spielt dabei zunächst keine
Rolle, hat einen Anspruch und ein Recht dar
auf, seinen Leistungen entsprechend an den
erzeugten Gütern und Errungenschaften teil
zuhaben. Das ist der Grundsatz des Sozia
lismus und kein moderner Staat ist denkbar,
der diesen Grundsatz nicht im Prinzip aner
kennt! Leider wird es meistens im Prinzip
wohl anerkannt, in der Praxis jedoch nicht
verwirklicht. An dieser unlogischen Einstel
lung und Haltung krankt die Wirtschaft un
serer Zeit und somit auch die Politik.
Die Arbeiterbewegungen der Neuzeit haben
nach verschiedenen Gesichtspunkten, geboren
aus den geschichtlichen Gegebenheiten ihrer
Zeit, den Kampf um die soziale Gerechtig
keit aufgenommen. Ihrem Kampf ist es allein
zu verdanken, daß sich doch bereits Ansätze
neuer Ideen und Erkenntnisse zeigen. Näm
lich u, a. die simple Erkenntnis, daß in der
modernen Wirtschaft einer vom anderen un
mittelbar und zwingend abhängig ist- Daß
einer ohne den anderen nicht existieren kann.
Der Arbeitgeber nicht ohne den Arbeitneh
mer und umgekehrt. Wenn neute ein Betrieb
zusammenbricht ist nicht nur der Besitzer
der Geschädigte, sondern auch der Arbeiter,
der dort seine Existenz hatte.
Aus dieser Erkenntnis heraus schrieb man
in dem neuen Betriebsverfassungsgesetz Para
graph 49 folgendes: „Arbeitgeber und Be
triebsrat arbeiten vertrauensvoll zum Wohle
des Betriebes und seiner Arbeitnehmer unter
Berücksichtigung des Gemeinwohls zusam
men.“ — Aus diesem Satze spricht die Er
kenntnis, daß eine Gemeinschaft, ob es sich
nun um einen Betrieb, einen Staat oder son
stige Gemeinschafts- oder Gesellschaftsformen
handelt, nur gedeihen kann, wenn das gegen
seitige Vertrauen da ist. Weiterhin bedarf
es aber des Willens zur Zusammenarbeit und
ganz logisch auch der gerechten und den
Leistungen der einzelnen Mitglieder entspre
chenden Beteiligung an dem gemeinsam er
zielten Gewinn. Der ehemalige, inzwischen
verstorbene Vorsitzende der englischen Ar
beiterpartei — Laski — sagte 1946 einmal:
Für die wirtschaftliche und politische Ent
wicklung der freien Welt gibt es nur eine
mögliche Lösung, nämlich eine organische
Ordnung und Planung innerhalb der Natio
nen und eine ebensolche Abstimmung ihrer
Beziehungen zueinander. Er hat damit k>e-
wußt ein neues oder sagen wir verbessertes
Ziel für den sozialen Aufbau unserer Welt
gegeben. Er sah diese Ordnung in einer Re
gelung der gegenseitigen Beziehungen nach
organischen Gesetzen. Mit anderen Worten,
jede Gemeinschaft ist als ein Organismus
zu betrachten, in welchem die einzelnen Per
sonen als Zellen eines lebenden Körpers gel
ten. Sie sind zwar berechtigt ein gewisses
Eigenleben zu führen, müssen aber ihre we
sentlichen Handlungen dem Gesamtwohl die
ses Organismus unterordnen aus der Erkennt
nis heraus, daß sie nur mit diesem Gesamt-
organismus leben können. Jede Zelle oder
Person hat Pflichten, aber auch Rechte und
beides soll aufeinander abgestimmt sein. Je
der einzelne ist für die Erhaltung und das
Gedeihen dieser organischen Gemeinschaft
verantwortlich, denn mit ihr lebt und stirbt
er. Mit dieser Auffassung Laskis und anderen
ähnlichen Äußerungen bekannter Sozialisten
und Gesetzgeber ist ein neues Moment in die
Entwicklung der sozialen Frage und die Ge
staltung des Kampfes um eine soziale Ge
rechtigkeit getreten.
Der Erfolg dieser neuen Zielsetzung hängt
davon ab, ob alle Beteiligten in einer Ge
meinschaft die Notwendigkeit der organischen
Zusammengehörigkeit erkennen, und die Vor
aussetzung dafür ist, daß das gegenseitig©
Vertrauen geschaffen wird. Hier liegt es vor
allem beim Arbeitgeber, daß die Fehler der
Vergangenheit, die rücksichtslose Ausbeutung
und Profitgier abgelegt und aus gesunder
Einsicht und freiem Willen jene soziale Ord
nung gefördert wird, die in der Lage ist,
einen lebensfähigen und gesunden Organis
mus zu erhalten. Diese Notwendigkeit besteht
sowohl hinsichtlich der vertrauensvollen Zu
sammenarbeit innerhalb des Betriebes, wie
innerhalb des gesamten Staatslebens.
Soweit die Theorie der modernen Zielset
zung! In der Praxis muß man leider erken
nen, daß von kluger Einsicht und Entgegen
kommen auf Untemehmerseite vorläufig kaum
die Rede sein kann. Die Arbeitnehmerseite
könnte diese neue soziale Ordnung erzwin
gen, wenn sie es fertig bringt, sich genügend
stark zu machen um im Endstadium des
Kampfes als gleichstarker Partner aufzutreten.
Die Zeit ist reif für eine soziale, d- h. ge
rechte Ordnung unseres Zusammenlebens.
Dem schaffenden Menschen aber sei zuge
rufen: Dein Recht auf eine Verbesserung
Deiner Lebensverhältnisse ist unbestreitbar,
Geduld hast Du lange genug gehabt, die Zeit
ist gekommen, Deine Rechte anzumelden und
durchzusetzen 1 D. W.