Full text: 1954 (0009)

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Mitglieder Speechen: 
Gerechte Ordnung unseres Zusammenlebens 
„Wer’s Recht hat und Geduld, für den kommt 
auch die Zeit!“ Goethe (Faust II Teil) 
Dieser Ausspruch des größten deutschen 
Dichters und Denkers birgt soviel Weisheit 
und hoffnungsvolle Gewißheit, daß man ihn 
jedem schaffenden Menschen« der heute mit 
unter im Kampf um sein Recht und die Ge 
staltung der Zukunft verzagen möchte, immer 
wieder Zurufen sollte. Die Geschichte der 
Menschheit und die Geschichte des sozialen 
Kampfes besteht meist aus Rückschlägen und 
Niederlagen und doch ist es immer wieder 
ein kleines Stückchen weiter vorwärts gegan 
gen in der Richtung auf das Endziel, der ge 
rechten Beteiligung aller schaffenden Men 
schen an den Gütern und Freuden dieser 
Erde. Noch ist allerdings ein weiter Weg 
zurückzulegen! Im Augenblick sieht es so 
aus, als stünde die Arbeiterbewegung im 
Kampf um die soziale Gerechtigkeit in den 
großen Industriestaaten unserer Zeit, vor 
allem in Europa, vor sehr schweren Kämpfen 
und Auseinandersetzungen. Die Entwicklung 
der Technik und Zivilisation in den moder 
nen Industriestaaten drängt auf die Klärung 
und Lösung der sozialen Frage. 
Die Lösung und Klärung dieser Frage kann 
aber nur dann Erfolg haben und nur dann zu 
eurer gewissen Stabilität führen, wenn, sie nach 
geredeten Gesichtspunkten erfolgt. Die sich 
heute darbietende Entwicklung der sozialen 
Struktur einer ständig zunehmenden Verar 
mung der breiten Massen auf der.einen Seite 
und der ständig zunehmenden Anhäufung 
von Reichtum und Luxus bei den oberen 
Zehntausend auf der anderen Seite, kann nur 
zu Katastrophen und schwersten Erschütte 
rungen unserer westlichen Welt führen. Die 
Quelle dieses ungesunden und gefährlichen 
Zustandes liegt zunächst mal begründet in 
den Auswirkungen der beiden verheerenden 
Weltkriege, die über Europa und die Welt 
binweggegangen siucl. Sie haben am schwer 
sten den kleinen Mann, den Arbeitnehmer 
getroffen, sein Häuschen und sein Hausrat 
gingen restlos verloren, seine Spargroschen 
gingen ebenfalls zum Teufel und zwar inner 
halb von 25 Jahren zwei mal. Was übrig 
blieb, waren, wenn er Glück hatte, seine 
heilen Glieder und das nackte Leben. Die 
wenigen, die Vermögenswerte,, Besitzungen 
usw. retten oder auf Kosten der anderen 
(aus Steuergeldern usw.) oft auf nicht allzu 
saubere Weise. Kredite ergattern konnten, 
nutzten als- Unternehmer ihre Machtposition 
allergrößten teils rücksichtslos aus und bean 
spruchtem den Gewinn aus der wiederanlau- 
f enden Produktion und dem Wiederaufbau 
in der Hauptsache liir sich. Der Arbeitnehmer 
bekam gerade soviel, daß er sich Kleidung 
und Essen anscltaffen konnte um Weiterarbei 
ten zu können. In diesem Zustand verharren 
wir praktisch heute noch, 9 Jahre nach Kriegs 
ende. Der eigentliche Verlierer des letzten 
und des vorletzten Krieges war der kleine 
Mann, d. h. der Arbeitnehmer und zwar in 
alle' .Nationen. Man ist bereits wieder dabei 
Armeen aufzustellen, und wenn man ihm 
keine zufriedenstellende Antwort auf die Fra 
gen warum und wofür gibt oder geben kann/ 
dann is! es schlecht bestellt um die euro 
päische Verteidigung! 
Das Recht des Arbeitnehmers auf ein le 
benswertes Leben wird man ihm öffentlich 
wohl kaum bestreiten können, ebensowenig 
seine schon beinahe sprichwörtliche Geduld. 
Wer Augen hat zu sehen, der muß erkennen, 
daß es Zeit ist etwas Definitives zu tun. Der 
schaffende Mensch kann nicht ewig die zu 
melkende Kuh für die nicht produktiven 
Geschäftemacher darstellen, sondern es ist 
höchste Zeit, daß er seinen Leistungen ent 
sprechend auch am Sozialprodukt beteiligt 
wird. Es ist kein tragbarer Zustand, wenn 
ein Schwarm von Zwischenhändlern mit einem 
Federstrich an einer Ware 50, 100% und mehr 
verdient, während derjenige, der diese Ware 
schafft, höchstens mit 10 oder 15% daran 
beteiligt ist. Hiermit ist aber nur ein Pro 
blem oder ein Umstand aufgeführt, dessen 
soziale Ungerechtigkeit zum Himmel schreit! 
Erhältlich in alltn A5X0 Verteilungutellen Saarland«« 
Soziale Gerechtigkeit ist aber die absolut 
notwendige Grundlage für jedes Zusammen 
leben einer Gesellschaft oder Gemeinschaft; 
mit anderen Worten: jedes Mitglied dieser 
Gemeinschafl, ob es sich dabei nun um ein 
Volk, eine Nation, einen Staat oder Staalen- 
bund handelt, spielt dabei zunächst keine 
Rolle, hat einen Anspruch und ein Recht dar 
auf, seinen Leistungen entsprechend an den 
erzeugten Gütern und Errungenschaften teil 
zuhaben. Das ist der Grundsatz des Sozia 
lismus und kein moderner Staat ist denkbar, 
der diesen Grundsatz nicht im Prinzip aner 
kennt! Leider wird es meistens im Prinzip 
wohl anerkannt, in der Praxis jedoch nicht 
verwirklicht. An dieser unlogischen Einstel 
lung und Haltung krankt die Wirtschaft un 
serer Zeit und somit auch die Politik. 
Die Arbeiterbewegungen der Neuzeit haben 
nach verschiedenen Gesichtspunkten, geboren 
aus den geschichtlichen Gegebenheiten ihrer 
Zeit, den Kampf um die soziale Gerechtig 
keit aufgenommen. Ihrem Kampf ist es allein 
zu verdanken, daß sich doch bereits Ansätze 
neuer Ideen und Erkenntnisse zeigen. Näm 
lich u, a. die simple Erkenntnis, daß in der 
modernen Wirtschaft einer vom anderen un 
mittelbar und zwingend abhängig ist- Daß 
einer ohne den anderen nicht existieren kann. 
Der Arbeitgeber nicht ohne den Arbeitneh 
mer und umgekehrt. Wenn neute ein Betrieb 
zusammenbricht ist nicht nur der Besitzer 
der Geschädigte, sondern auch der Arbeiter, 
der dort seine Existenz hatte. 
Aus dieser Erkenntnis heraus schrieb man 
in dem neuen Betriebsverfassungsgesetz Para 
graph 49 folgendes: „Arbeitgeber und Be 
triebsrat arbeiten vertrauensvoll zum Wohle 
des Betriebes und seiner Arbeitnehmer unter 
Berücksichtigung des Gemeinwohls zusam 
men.“ — Aus diesem Satze spricht die Er 
kenntnis, daß eine Gemeinschaft, ob es sich 
nun um einen Betrieb, einen Staat oder son 
stige Gemeinschafts- oder Gesellschaftsformen 
handelt, nur gedeihen kann, wenn das gegen 
seitige Vertrauen da ist. Weiterhin bedarf 
es aber des Willens zur Zusammenarbeit und 
ganz logisch auch der gerechten und den 
Leistungen der einzelnen Mitglieder entspre 
chenden Beteiligung an dem gemeinsam er 
zielten Gewinn. Der ehemalige, inzwischen 
verstorbene Vorsitzende der englischen Ar 
beiterpartei — Laski — sagte 1946 einmal: 
Für die wirtschaftliche und politische Ent 
wicklung der freien Welt gibt es nur eine 
mögliche Lösung, nämlich eine organische 
Ordnung und Planung innerhalb der Natio 
nen und eine ebensolche Abstimmung ihrer 
Beziehungen zueinander. Er hat damit k>e- 
wußt ein neues oder sagen wir verbessertes 
Ziel für den sozialen Aufbau unserer Welt 
gegeben. Er sah diese Ordnung in einer Re 
gelung der gegenseitigen Beziehungen nach 
organischen Gesetzen. Mit anderen Worten, 
jede Gemeinschaft ist als ein Organismus 
zu betrachten, in welchem die einzelnen Per 
sonen als Zellen eines lebenden Körpers gel 
ten. Sie sind zwar berechtigt ein gewisses 
Eigenleben zu führen, müssen aber ihre we 
sentlichen Handlungen dem Gesamtwohl die 
ses Organismus unterordnen aus der Erkennt 
nis heraus, daß sie nur mit diesem Gesamt- 
organismus leben können. Jede Zelle oder 
Person hat Pflichten, aber auch Rechte und 
beides soll aufeinander abgestimmt sein. Je 
der einzelne ist für die Erhaltung und das 
Gedeihen dieser organischen Gemeinschaft 
verantwortlich, denn mit ihr lebt und stirbt 
er. Mit dieser Auffassung Laskis und anderen 
ähnlichen Äußerungen bekannter Sozialisten 
und Gesetzgeber ist ein neues Moment in die 
Entwicklung der sozialen Frage und die Ge 
staltung des Kampfes um eine soziale Ge 
rechtigkeit getreten. 
Der Erfolg dieser neuen Zielsetzung hängt 
davon ab, ob alle Beteiligten in einer Ge 
meinschaft die Notwendigkeit der organischen 
Zusammengehörigkeit erkennen, und die Vor 
aussetzung dafür ist, daß das gegenseitig© 
Vertrauen geschaffen wird. Hier liegt es vor 
allem beim Arbeitgeber, daß die Fehler der 
Vergangenheit, die rücksichtslose Ausbeutung 
und Profitgier abgelegt und aus gesunder 
Einsicht und freiem Willen jene soziale Ord 
nung gefördert wird, die in der Lage ist, 
einen lebensfähigen und gesunden Organis 
mus zu erhalten. Diese Notwendigkeit besteht 
sowohl hinsichtlich der vertrauensvollen Zu 
sammenarbeit innerhalb des Betriebes, wie 
innerhalb des gesamten Staatslebens. 
Soweit die Theorie der modernen Zielset 
zung! In der Praxis muß man leider erken 
nen, daß von kluger Einsicht und Entgegen 
kommen auf Untemehmerseite vorläufig kaum 
die Rede sein kann. Die Arbeitnehmerseite 
könnte diese neue soziale Ordnung erzwin 
gen, wenn sie es fertig bringt, sich genügend 
stark zu machen um im Endstadium des 
Kampfes als gleichstarker Partner aufzutreten. 
Die Zeit ist reif für eine soziale, d- h. ge 
rechte Ordnung unseres Zusammenlebens. 
Dem schaffenden Menschen aber sei zuge 
rufen: Dein Recht auf eine Verbesserung 
Deiner Lebensverhältnisse ist unbestreitbar, 
Geduld hast Du lange genug gehabt, die Zeit 
ist gekommen, Deine Rechte anzumelden und 
durchzusetzen 1 D. W.
	        
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