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Die Streiks in der Bundesrepublik
Eine Nachlese
Nachdem die Streiks in der Bundesrepublik
beendet sind, erscheint es angebracht, in einer
mehr und mehr sich beruhigenden Atmos
phäre einige absurde Vorwürfe und grobe
Ungereimtheiten unter die Lupe zu nehmen,
mit denen die Gewerkschaften im Verlaufe
der Arbeitskämpfe traktiert wurden. Nicht zu
vergessen ist dabei auch diese und jene intel
lektuelle Unredlichkeit, die im Eifer des mehr
wöchigen Gefechts gegen jede Lohn- und Ge-
haltseihöhung von gewissen Interessentenkrei
sen begangen worden ist.
Was ist den Gewerkschaften in den letzten
Wochen nicht alles vorgeworfen und unter
schoben worden? Beginnen wir mit den
schlimmsten Plattheiten. Da hieß es, sie näh
men Rache für den Ausgang der Bundestags
wahlen vom 6. September 1953. Mir nichts
dir nichts wurde hier ein Lohnkonflikt wider
besseres Wissen nach Taschenspielerart von
der wirtschaftlichen auf die politische Ebene
geschoben. Sind sich diese Jongleure nicht im
klaren darüber, daß fraglos ein nicht unbe
trächtlicher Teil derjenigen, die jüngst an den
Streiks teilgenommen haben, im letzten Jahre
die Parteien der Bonner Koalition wählten?
Nahmen diese Wähler Rache für den 6. Sep
tember 1953? Diese Frage zu beantworten
mag für diejenigen am reizvollsten sein, die
sie aufgeworfen haben.
Mit viel Aufwand ist die Frage diskutiert
worden, ob es weiterhin überhaupt noch trag
bar sei, daß lediglich die Gewerkschaftsmit
glieder über den Ausbruch eines Streiks zu
entscheiden hätten. Eine Minderheit, so hieß
es, zwinge da doch oft der Mehrheit dikta
torisch ilrren Willen auf. Nun, ein Streik ist
in der Regel ein Konflikt um die materiellen
Bestimmungen eines Tarifvertrages. Als Tarif
kontrahenten können nur die Gewerkschaften
oder die Arbeitgeberverbände darüber bestim
men, ob ein bisheriger Vertrag gekündigt
wird. Daraus ergibt sich zwingend, daß auch
nur Gewerkschaftsmitglieder über einen Streik
abstimmen können. Arbeitnehmern, die nicht
über eine Gewerkschaft am Abschluß eines
Tarifvertrages beteiligt sind, ja offensichtlich
nicht beteiligt sein wollen, kann schlechter
dings kein Einfluß auf den Inhalt, den Ab
lauf und den Neuabschluß eines Vertrages
eingeräumt werden. Wer Gegenteiliges for
dert, schlägt einen logischen Purzelbaum. Die
Gewerkschaften als Vertragskontrahenten kön
nen ihr Handeln unmöglich von Arbeitneh
mern bestimmen lassen, die nichts dazu bei
getragen haben, daß ein Tarifvertrag abge
schlossen wurde. Darüber sollte kein Streit
möglich sein, übrigens räumen die Arbeitge
berverbände ja auch Niditmitgliedern kein
Mitentscheidungsrecht ein. Über die Zusam
mensetzung eines Parlaments bestimmen
schließlich ebenfalls nur die Wähler, nicht
aber die Nichtwähler, die an der Wahl un
interessiert sind. Im 1. Bundestag stützten sich
die Regierungsparteien auf 11,1 Millionen
Wähler bei 31.2 Millionen Wahlberechtigten.
Obwohl sich nur wenig mehr als ein Drittel
der Wähler für sie entschieden hatten, bilde
ten sie die Regierung. Und dodt ist nieman
den eingefallen, die erste Regierung Ade-
aauer eine Diktatur zu nennen.
Immer wieder ist in den letzten Wodien
sowohl der Streik in Hamburg als auch in
Bayern als „brutales gewerkschaftlidies Macht
streben" gedeutet und diffamiert worden, ob
gleich die deutschen Arbeitnehmer-Organisa
tionen in den letztem Jahren nur sehr verein
zelt zum Slreikmittel gegriffen haben. In der
im laufenden Jahr ersdiienenen Neuauflage
seines Buches „Der Kampf zwischen Kapital
und Arbeit“ sagt der Münchener Professor
Dr. Adolf Weber:
„Die Zahl der durch Streik verlorenen jähr
lichen Arbeitstage stieg nach der Jahrhun
dertwende in den Jahren 1904/05 auf mehr
als 14 Millionen, sank vorübergehend auf
2\.-> Millionen, erreichte aber 1913 wieder
mehr als 8 Millionen. Während der Revo
lution nach dem ersten Weltkriege gingen
durch Streik in einem Jahre 34 Millionen
Arbeitstage verloren, aber auch in der Zeit
der großen Inflation wurden bis zu 24
Millionen verlorene Arbeitstage gezählt,
während der Prospcriiätszeit Ende der 20er
Jahre bewegte sich die Zahl der verlorenen
Arbeitstage immer noch um 8 Millionen.
Und nun das Gegenstück: Die Zahl der
durch Streik verlorenen Arbeitstage belief
sich 1950 auf 380121, 1951 auf 1637 852
und 1952 auf 442 S77.“
An anderer Stelle führt Professor Adolf We
ber aus:
„Es wurde schon gelegentlich darauf hinge
wiesen, daß die durch Angriffs- oder Ab-
wehrstreiks verlorenen Arbeitstage im Bun
desgebiet in dem Jahrfünft 1949—1953 ge
ringer waren, als in irgend einem früheren
Jahrfünft, seidem wir über eine amtliche
Streikstatistik verfügen (1899).“
Trotzdem der Vorwurf des Machtstrebens.
In den Vereinigten Staaten sind 1952 nach
einer Veröffentlichung des Internationalen
Arbeitsamtes 59 Millionen Arbeitstage ver
loren gegangen. Wenn- der Streik einen „Riick-
Mit Erschütterung teilen wir unseren
Mitgliedern mit, daß im vorigen Monat
der langjährige Redakteur der „Arbeit"
Conrad Schüler
nach langer schwerer Krankheit ver
schieden ist. Der Verstorbene war fast
3V£ Jahrzehnte, vornehmlich an saar
ländischen Zeitungen, tätig und erfreute
sich in Kollegenkreisen wegen seines
untadeligen Charakters höchster Ach
tung.
Schüler hatte seine journalistische
Tätigkeit im Jahre 1920 beim „Trier-
ischen Volksfreund" aufgenommen. Eis
zum Ende des Jahres 1953 war er
Schriftleiter unserer Zeitung „Die Ar
beit“. Auch wir haben Kollegen Schiller
wegen seiner menschlich wertvollen Ge
sinnung schätzen gelernt und werden
ihn in bestem Andenken behalten.
Seiner Gattin und seinen beiden Kin
dern gilt unser tiefempfundenes Beileid.
Saarbrücken, im September 1954
gez. Richard Rauch.
fall in die Methoden des Klassehkampfis
bedeutet, wie heute von gewisser Seite gesag
wird, dann eben wird der Klassenkampf ai
ausgeprägtesten in den Vereinigten Staate
geführt. Der mit den Verhältnissen in Arne
rika aufs genaueste vertraute Nationalökonou
Professor Dr. Eduard Heimann sagt in seinen
jüngst veröffentlichten Buch „Wirtschaftssy
steme und Gesellschaftssysteme“:
„Vor 50 Jahren wurde der Massenstreik a!
die schrecklichste Waffe des revolutionären
Klassenkampfes unter den Theoretikern da
Revolution eifrig diskutiert; heute ril ei
sozusagen das normale Drohmittcl in da
Hand der konservativsten der großen Ar
beitergewerkschaften, der amerikanischen
Arbeitsföderation “
Die deutschen Gewerkschaften führen
Streiks nicht um der Streiks willen. Sie be
trachten sie vielmehr als das letzte Mittel in
den sozialen Auseinandersetzungen. Jedem der
in den letzten Wochen ausgebrochenen Ar
beitskämpfe sind langwierige, ergebnislose
Verhandlungen vorausgegangen. Durch die
Haltung der Arbeitnehmer wurden schiießlidi
Zugeständnisse erzwungen, die vorher ni^f
zu erzielen waren Spricht diese Tatsache cJ
für, daß Streiks überholt und unzeitgemäß
sind?
Nun behauptet man, daß mit den Arbeils-
kämpfen Zugeständnisse erzwungen worden
sind, die die Gesamtwirtschaft schädigen. Ein
Wirtschaftsblatt sagte unlängst sogar, die Fol
gen der Streiks müßten von der gesamten
Bevölkerung getragen werden. Wann jemals
in den vergangenen Jahren ist in gleicher
Weise argumentiert worden, wenn die Ge
samtbevölkerung die Lasten hoher Preisstei
gerungen zu tragen hatte?
Nach dem Statistischen Bundesamt stiegen
die Lebenshaltungskosten (1938 = 100) von
156 im Jahresdurchschnitt 1950 bis zum Januar
1952, also innerhalb eines Jahres, auf 175,
oder um nicht weniger denn 12,2%. Über
die hohen Preise wurden auf Kosten der Ver
braucher die Investitionen finanziert. Wie die
„Gegenwart“ am 28. August 1954 ft-ststelUe,
haben die Investitionen heute „ein geradezu
beängstigendes Ausmaß“. Das Blatt erldä!j|j||
„Vor dem 1. Weltkrieg rechnete man um
einem Invesvitionsbedarf von etwa 5% des
Volkseinkommens. Nach dem 1. Weltkrieg
bis zum 2. Weltkrieg stieg die Investitions
rate auf lOVo des Volkseinkommens. Heute
beanspruchen die Investition etwa 20°.j;
netto. Die Brutto-Investitionen betrugen
1953 rund 32 Milliarden DM bei einem
Volkseinkommen von 103 und einem Brutto-
Sozial-Produkt von 133 Milliarden DM. So
unklar und schwierig wie die Unterschei
dung zwischen Erneuerung und Erweite
rung ist, so umstritten ist auch das vom
Steuergesetzgeber zugelassene Maß steuer
freier Abschreibung. Es wird auf anderen!
von der Steuergesetzgebung geschaffenen!
und zugelassenen Wegen für interne Finan-j
zierung gesorgt “
Schon ist in seriösen ausländischen Zeitun
gen, bei denen gewiß keine Konkurrenz-
Komplexe gegen Westdeutschland bestehen,
von „einer ausgesprochenen Uberinve
stition“ die Rede. So schrieb am 20. Au
gust 1954 die' „Basler NationaJ-Zeitung“
ihrem Wirtschaftsteil unter der bezeichnen-