Saarbrücken
8. fahrgang
Nov 1953
Nummer 13
ORGAN m EI«SCMHS(Hm DER ARBEITER (INGESTELLTEN UND BEflfTlTEN
Existenzminimum -
Mindestlohn
Der Mindestlohn ist längst überholt
Die von den Gewerkschaften im vorigen
Jalire erhobenen Lohn- lind Gehaltsforde-
rungen wußte man auf der ganzen Linie
mit dem Hinweis auf die Aktion Pinay,'
die nicht gestört werden sollte, abzudros-
soln. Wir standen diesem Experiment von
Anfang an skeptisch gegenüber, ebenso wie
unsere Brudergewerkschaften in Frank
reich:
Seit Februar 1952, zum Teil auch seit
Herbst 1951 stagnieren nun die Einkom
mensverhältnisse der Arbeitnehmer im
Saarland und haben im Jahre 1953 gar
zu einer rückläufigen Bewegung ange-
setzt: Ueber diese Tatsache können weder
die hier und da getätigten Lohn- und
Gehaltsabschlüsse mit gewissen Verbesse
rungen (siehe Brauereiindustrie, Bauge
werbe an anderer Stelle dieser Ausgabe)
hieht hinwegtäuschen noch die Veröffent
lichungen der Effektivlöhne durch das
Statistische Amt des Saarlandes; denn es
ist bei der Betrachtung des Neveaus auf
die Ueberstunden und Schichten an Sonn-
und Feiertagen zu verweisen und nicht
zuletzt resultieren eine ganze Reihe von
Berechnungen aus Akkordleistungen mit
überaus großer Beanspruchung der
menschlichen Arbeitskraft.
Was wir, soll der Schwer er kämpfte
Achtstundentag nicht zur Farce werden,
anstreben, sind ausreichende Löhne und
Gehälter bei normaler Arbeitszeit und bei
ArteJtshediftguugciL die
'ffthrdunp der Gesundheit des Arbeitneh
mers darstellen. Von diesem Zustand sind
wir noch weit entfernt, und es hat bei
der heute abklingenden Hochkonjunktur
ganz den Anschein, als solle der Lebens
standard eine weitere Einengung erfahren.
Noch ist nicht abzusehen, welchen Aus
gang die noch schwebenden Lohnvcrhand-
lungen im einzelnen nehmen w erden, doch
sollte man sich hier vor einem unange
brachten Optimismus hüten, umso mehr
als das Unternehmertum versucht, die
zweifellos rückläufige Bewegung des Ge
schäftsganges in der Eisen- und Metall
industrie über Gebühr aufzubauschen und
damit Lohn- und Gehaltsforderungen wie
der einmal mehr im Keime zu ersticken.
Wir werden in einer späteren Nummer
der Arbeit auf diese Probleme und im
Zusammenhang mit ihnen auf eine gene
relle Betrachtung der Löhne und Gehäl
ter zurückkommen, heute wollen wir uns
auf die Untersuchung der Frage beschrän
ken, wie hoch der Lebensbedarf des ar
beitenden Menschen zu bemessen ist und
insbesondere auf eine Kritik des sogenann
ten Existenzminimums. Wenn wir diesen
Begriff richtig verstehen — und wir
können uns nicht vorstellen, daß man
ilm anders verstehen darf —- soll doch
der Mindestlohn oder besser gesagt, der
gesetzliche Mindeststundenlohn, das Ein
kommen garantieren, das der Arbeitneh
mer zum Fristen seines Lebens unbedingt
braucht und unter dem er nicht bezahlt
werden soll.
Es geht uns also weniger um eine
Indexbetrachtung, die’, das streiten wir
nicht ab, zu dem Schlüsse führen wird,
daß sich die; Nominal- aber auch dig
Reallöhne gegenüber einem gewissen Zeit-;
punkt aufwärts entwickelt naben, als um
die Prüfung der Frage, ob der zur Zeit
noch gültige Mindcststundenlohn den; tat-)
sächlichen Lebensverhältnissen noch ent*;
spricht.' Nehmen wir das Ergebnis vor,-'
weg, die Formel Mindestlohn = Existenz-
minimum ist noch nie; zutreffend ge
wesen'.'
Seit Herbst 1951 stellt der gesetzliche
Mindeststundenlohn auf 96,25 Fr.', das
entspricht einem monatlichen Einkom
men von 20 854.— Fr. 1 brutto ohne Be
rücksichtigung natürlich etwaiger Fami
lienzulagen.
Der Warenkorb aus dem Jahre 1938,
der den Berechnungen des statistischen
Amtes für die monatlichen Ausweisungen
der Lebenshaltungskosten heute noch
mangels besserer Bezugsmengen zugrunde
liegt und dessen Entnazifizierung viel
leicht dringender gewesen wäre als manche
andere, gibt im Oktober 1953 den Auf
wand für die gesamte Lebenshaltung der
fünfköpfigen Arbeiterfamilie in 4 Wo
chen mit Fr. 35099.—; an. (Index 165,5
Januar 1948 — 100).'
Ganz abgesehen von der Tatsache, daß
bei der Bevölkerungsstruktur des Saar-
iandes die fünfköpfige Familie (Ehepaar
a nüL^Juiidernj durchaus nicht mehr als
repräsentativ anzusprechen ist — die
drei- bis vierköpfige Familie dürfte er
heblich stärker vertreten sein —, gibt
dieser Betrag durchaus nicht die Ko
sten für einen angemessenen Lebensunter
halt wieder. Doch davon später. Was
uns im Augenblick interessiert, ist die
Feststellung der Tatsache, daß das mo
natliche (monatlich und nicht vierwö-
chentlich) Einkommen der Familie des
Arbeitnehmers, der den gesetzlichen
Mindestlohn bezieht dieser Fall
dürfte durchaus Rieht vereinzelt da-
stehen — netto einschließlich Fami
lienzulage für Frau und 3 KinderR
29 073.— Fr. beträgt, d. h: also nur 82,8
Prozent des zum allermindesten gegebe
nen Lebensbedarfes: Der Facharbeiter 1?
Stufe der eisenschaffenden Industrie er
reicht mit seinem Tariflohn bei norma
ler Arbeitszeit diesen Betrag mit mo
natlich 35 010.— Fr. netto noch nicht
einmal ganz, während alle unteren Kate
gorien nur durch Ueberstunden und Lei
stungszuschläge an diesen Plafond hcran-
kommen können. Zu einem späteren Zeit
punkt werden wir die Streuung der Ar
beitnehmereinkommen untersuchen. 1
Heute noch kurz eine Gegenüberstel
lung, die die Relation monatliches Ein
kommen bei Bezug des gesetzlichen Min-
deststundenlohncs und Kosten des Waren
korbes zu verschiedenen Zeitpunkten auf
zeigen soll.
Zeitpunkt
Existenzminimum
(Kosten des
Warenkorbes)
Mindestlohn
(monatlich
Mindestlohn
zu Existenzminimum
Januar 1948
21 108.— Fr:
14 407.—
67,9 o/o
Jahresdurchschnitt 1952
35 311.— Fr.
29 073.—
82,3 o/o
Durchschnitt Jan.-Okt: ■
»3
35 629.— Fr:
29 073.—
81,6 o/o
Diese Zahlen verstehen sieh natürlich
für die fünfköpfige Arbeiterfamilie un
ter Berücksichtigung der Abzüge sowie
der Familienzulagen und Lohnzulage. Ein
weiterer Kommentar dürfte sich erüb
rigen, da die Zahlen für sich selbst
sprechen.
Wir dürfen auf jeden Fall feststellen,
daß die Forderung der französischen Ge
werkschaften nach Erhöhung des Mindest-
lohnes auf 23000 frs. bei 200 Stunden
Arbeitszeit im Monat mehr als bescheiden
ist: (Siehe hierzu den Artikel: Die Ver
teidigung der Lohnkauf kraft) 1
Ein weiterer Artikel folgt: R. E.
AUS IDEM IHN EI A ET:
Aenderung der Steigerungsbe träge in der Rentenversicherung — Neuer
Lohnabschluß in der Brauereiindustrie — Mitteilungen der Verbände — 1
Wann Icommt das Betriebsrätegesetz? — Tribüne frei! — Zur Familienzu
lage, H Das Problem der wirtschaftlichen Fürsorge — Besondere Aktivität
einer Jugendgruppe — Wir bauen auf! — Gewerkschaftliches aus aller Welt
Rentenerhöhung angekündigt
Arbeitsmfnister Kim über wichtige Sozialfragen auf dem
Verbandstag des I. V. Eisenbahn
Auf dem Verbandstag des I. V. Eisenbahn
in Dudweiler (an anderer Stelle dieser Aus
gabe wird über den Verlauf der Tagung im
einzelnen berichtet) machte Arbeitsminister
Kirn wichtige Ausführungen zu SoziaHragen;
Im Januar, so versicherte der Minister, werde
eine wesentliche Erhöhung der Renten und
Pensionen erfolgen;
Weiter betonte der Minister, daß alle, die
nach der von ihm erlassenen Verordnung an
Weihnachten nicht in den Genuß der dop
pelten Familienzulage kommen, eine einmalige
Zuwendung erhalten. Nach den Ausführungen
des Ministers beträgt diese Zuwendung für
alle Alleinstehenden 1.200, für die Witwen
und Witwer 1800 und für die Waisen 2400
Franken. Dieser Betrag werde zusammen mit
der Rente für den Monat Dezember zuge-
stellt werden.
Die für den Monat Dezember 1953 gewährte
doppelte Familienzulage gelangt auch für die
Schwerkriegsbeschädigten zur Auszahlung.
Im Verlauf seiner Rede setzte sich der Ar
beitsminister energisch für die Verabschie
dung des BetriebsveiiawungsgegeUes ci , das
bedauerlicherweise immer noch in der Schub
lade des Vorsitzenden des Sozialpolitischen
Ausschusses im Saarländischen Landtag Hege.
(Siehe in dieser Ausgabe auch den Artikel:
Wann kommt das Betriebsrätegesetz?) Der
Minister hezeichnete das Gesetz als eine drin
gende Notwendigkeit. Eine politische Demo
kratie sei nur eine halbe Demokratie, wenn
sie nicht durch die Wirtschaftsdemokratie er
gänzt werde.
Sehr wichtig für die Arbeitnehmerschaft
sei auch eine baldige Verabschiedung des Kiin-
digungsschutzgesetzes.'
Sodann behandelte Minister Kirn die
französisch-saarländischen Konventionen. Er
vertrat die Auffassung, daß diese Verträge
ab 1; Januar 1954 in Kraft treten werden.
In diesem Zusammenhang sprach er sich nach
drücklich für die Gewährung des Tarifver
tragsrechtes an die Eisenbahner aus, denn
durch die Konventionen werde die Regie des
Mines in eine Gesellschaft des öffentlichen
Rechtes verwandtet; dadurch aber werde eine
alte Frage der Eisenbahner, nämlich die des
Tarifvertragsrechtes wieder akut. Da den
Bergarbeitern das Tarifvertragsrecht in die
ser Gesellschaft des öffentlichen Rechtes aus
drücklich zugestanden ist, glaubte der Mini
ster, daß man auch den Eisenbahnern die
ses Recht nicht mehr länger widerrechtlich
vorenthalten könne. In diesem Zusammen
hang erinnerte der Minister auch daran, daß
sich die saarländische Regierung mit dieser
widerrechtlichen Vorenthaltung der Tarifver
tragsfreiheit für die Eisenbahner in Wider
spruch mit der Konvention des Internatio
nalen Arbeitsamtes in Genf befindet, das sei
ner Auffassung nach einer offiziellen Auf
nahme des Saarlandes aus diesem Grunde
niemals zustimmen könne.
Die Verteidigung der Lohnkaufkraft
Ein neuer Vorstoß um den Mindestlohn in Frankreich
Der monatlich garantierte Mindestlohn ist,
trotz allen äußeren Zeichen, welche den Ein
druck erwecken sollen, als sei der garantierte
Mindestlohn ab 1. Oktober um rund 3000 Frs.
erhöht, noch immer, wie vor dem Auguststreik,
20000 Frs., basiert auf 200 Arbeitsstunden. Die
im Monat September erfolgte Erhöhung der nie
drigsten Löhne und Gehälter bei den Arbeitern
und Angestellten der staatlichen und öffentli
chen Betriebe auf 23 000 Frs. im Monat, hat
an dieser Tatsache nichts geändert; und die
„Empfehlung“ der „Hohen Kommission für
Kollektivverträge“, den Mindestlohn auf 23 000
Frs. zu steigern, ist eben eine „Empfehlung“ an
die Regierung geblieben und nichts weiter! Des
gleichen die famose „Empfehlung“ von Herrn
Georges Villiers, den Präsidenten der Ar
beitgeberverbände, in welcher den Unterneh
mern nahcgelegt wurde, die niedrigsten Löhne
der privaten Industrie auf 23 000 Frs. ab 1.
Oktober zu erhöhen. Die Unternehmer konnten
diese Empfehlung ihres eigenen Präsidenten in
den Wind schlagen, da sie durch keinerlei ge
setzliche Maßnahmen zur Erhöhung der Grund-
löhne verpflichtet wurden. Der gesetzlich ga
rantierte Mindestlohn von 20000 Frs. ist nicht
geändert worden. Und das muß betont werden!
So lange auch die zwei Unterkommissionen der
„Hohen Kommission für Kollektiv vertrage“
ihre für zwei Monate berechneten „Studien“
über ein neues „Muster-Familicnbudgcst“ nient
abgeschlossen haben, dürfte es auch kaum zu
einer legalen Erhöhung des garantierten Min
destlohnes kommen.
Die Unternchmervertretcr in diesen Kommis
sionen versuchen mit allen Mitteln, ein ent
sprechendes positives Ergebnis dieser Unterkom
missionen zu verhindern. Dem dienen die stun
denlangen, einfach lächerlichen, doch die Ar
beiterschaft auf das tiefste mißachtenden und
beleidigenden Diskussionen über die „Lebensbe
dürfnisse eines unverheirateten Hilfsarbeiters in
Paris. Hoch „wissenschaftliche“ Diskussionen z.
B., ob der Hilfsarbeiter zwei oder vier Teller
braucht; er täglich 2800 Kalorien, oder wie die
Gewerkschaften sagen, 3200 Kalorien benötigt.
Ob das Bett eines unverheirateten Hilfsarbeiters
0.80 oder 0.90 m breit sein muß und ähn
liche dumme Scherze mehr!
Die SFIO hat diesem Spuk, wenn auch noch
kein Ende, so doch eine gewisse Begrenzung ge
setzt, In der Kommission für Arbeitsfragen in
der Nationalversammlung gelang es am letzten
Freitag den Sozialisten, den Bericht Robert
G o u t a n t zur Annahme zu bringen. Interes
sant ist, daß auch nicht ein einziger Abgeordne
ter der Regierungsmajorität den Mut hatte, of
fen gegen den Bericht R. Courant zu stimmen.
Die MRP-Vertreter und andere Vertreter der
Rechten enthielten sich der Stimme und die
Radikalsozialisten zogen vor, an dieser Sitzung
der Kommission überhaupt nicht teilzunehmen.
Und was besagt der Bericht Coutant?
1, Der garantierte Mindestlohn wird zu einem
^nationalen Mindestlohn“. Das heißt, die
bisher gültigen Zonenabschläge in der Pro
vinz kommen in Wegfall.
2, Der garantierte nationale Mindestlohn ist
23 009 Frs., auf 173 Arbeitsstunden be
rechnet. Der Mindeststundenlohn stellt sich
danach auf 133 Frs. ’
3, Die Richtlinien über den garantierten Min
destlohn werden in das Gesetz zur „glei
tenden Lohnskala" eingebaut, und damit es
in Zukunft keinerlei unfruchtbare Diskus
sionen gibt, wird der als Referenz gedachte
Index, der 213 Artikel um einen Punkt er
höht, und zwar von 142 auf 143. Bisher
sollte die gleitende Lohnskala in Kraft tre
ten, wenn sich dieser Index um mehr als
5 Prozent erhöht hatte. Nach dem Bericht
Coutant tritt die gleitende Lohnskala auto-
maiiseh in Kraft, wenn der Index sich um
5 Prozent erhöht hat.
Gelingt es nun den Sozialisten, nachdem die
Kommission für Arbeitsfragen sich für den Be
richt Coutant entschieden hat, in der National
versammlung eine ähnliche Abstimmung zu er
zielen, dann ist ein wirklicher Erfolg der Ar
beitnehmer erreicht und dein nur zu durchsich
tigen Spiel der Regierung und der Unternehmer
mit dem Worte „Empfehlung“, wie deren ten
denziösen und pseudowissenschaftliche . Argu
mentation über den Bedarf der ,,unverheirateten
Hilfsarbeiter“, in der Unterkommission der
..Hohen Kommission für Kollektiv vertrüge ein
Ende gemacht. W.