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lull 1953
Wenn die Gewerkschaften keine Lohn-
verhandlungen führen würden und keine
Gehaltsvereinharungen ehschlicßen konn
ten, so hätten sie doch eine Aufgabe,
vielleicht die wichtigste, den Arbeitneh
mern im Betrieb ein Srlbstbewußtsein
zu vermitteln, das diese dazu bringt,
nicht mehr als willenlose Sklaven dem
Arbeitgeber oder seinem Vertreter ge
genüber zu stehen. Dieses Bewußtsein,
das bisher die gewerkschaftliche Orga
nisation der Arbeitnehmerschaft schon
beigebracht hat, hat wenigstens zu die
ser Atmosphäre geführt, wie wir sie
heute in den Betrieben — natürlich un
terschiedlich — kennen.
Aus dieser Tatsache ergibt sich schon
die Verpflichtung des einzelnen Arheit-
öekjners der Gewerkschaft beizutreten,
j^eil sie zunächst einmal das Bindeglied
von Arbeitnehmer zu Arbeitnehmer dar-
stellt und letzten Endes dadurch zu dem
Bewußtsein einer gewissen Starke führt.
Wenn wir durch die Betriebe gehen
oder uns während oder nach den Ver
sammlungen mit den Arbeitnehmern un
terhalten, stellen wir immer wieder die
große Unzufriedenheit fest, von der wir
ruhig sagen können, daß sic berechtigt
ist. Der Arbeitnehmer ist nicht davon
überzeugt, daß unsere Gesellschaftsord
nung alle Menschen gerecht behandelt
und er fühlt instinktiv, daß er in vielen
Dingen der Benachteiligte ist. Diese Be
nachteiligung stellt der Arbeitnehmer fest,
ohne daß er dazu besondere Kenntnisse
zu haben braucht. Aber es erhebt sich
die Frage, wie kann diese Benachteili
gung überwunden werden. Sie kann wohl
von dem größten Teil der Arbeitnehmer
schaft garnieht und von dem geringeren
Teil sehr verschieden und ungenügend be
antwortet werden. Man verlangt z. B. von
den Gewerkschaften den Kampf um hö
heren Lohn, Verbesserung der Sozialge
setzgebung und ein besseres Arbeitsrecht,
recht. Man verlangt das einfach, aber ver
gißt dabei, daß alle drei Fragen gesell
schaftlicher Art sind, d. h,. daß sie
nicht nur einen Teil unseres Volkes an-
gehen, z. B. Arbeitgeber und Arbeit
nehmer, oder Arbeitgeber und den Staat,
sondern, daß dieselben, wenn sie ver
wirklicht werden sollen, einen gesell
schaftlichen Strukturwandel voraussetzen
und darum geht es heute, wenn die ge
rechten Forderungen der Arbeitnehmer
schaft einer Lösung zugeführt werden
sollen.
Von der Produktionsstätte aus stellen
wir fest, daß das Produkt mitunter ei
nen sehr langen und auch komplizierten
Weg bis zum Konsumenten hat. Aber
wir als Arbeitnehmer sind immer dieje
nigen, die am Ende dieses langen und
komplizierten Weges stehen. Wenn wir
also besser an die Produkte herankom
men wollen, die wir nun einmal zu un
serem Leben benötigen, dann müssen wir
den ganzen Weg verfolgen, von uns als
Verbraucher bis zum Produzenten. Auf
der anderen Seite stehen wir im Be
trieb als Produzenten. Auch hier muß
ein Verhältnis geschaffen werden, das
uns Arbeitnehmern mehr gerecht wird
als das bisher bestehende. Allein diese
beiden Betrachtungen haben eine ganze
Menge Komplikationen, die durchdacht
werden müssen und die zu überwinden
sind.
Weder das Schimpfen auf den aus
beutenden Kapitalisten oder auf den letz
ten Preistreiber, der die Ware verkauft, 1
bringt uns Arbeitnehmern viel ein. Hel
fen könnte da nur eine andere und bes
sere Planung.
Der Arbeitnehmer steht in einem Staat«
mit seinem großen Verwaltungsapparat.
Dieser wird zunächst einmal gelenkt
durch seine hierarchische Bürokratie und
deren Lenkung wird beeinflußt durch die
Legislative, d. h. die anordnende Kör
perschaft.
Wenn die Arbeitnehmerschaft nicht
Einfluß nimmt auf die Entwicklung und
das Geschehen im Staate, dann muß sie
eben Dinge hinnehmen, die ihr meistens
unangenehm sind. Auch hier im Staat
und gegen den Staat muß ein gesell
schaftlicher Kampf von den Arbeitneh
mern geführt werden, weil dieser Staat
einmal die Rechtsgrundlagen schafft und
den Sonderaufbau der gesamten Gesell
schaft darstellt.
Wir sehen also zwei Fronten, auf denen
der Arbeitnehmer gezwungen ist zu
kämpfen, wirtschaftlich gegen das Kapi
tal und politisch gegen den Staat. Es
braucht nicht unbedingt so zu sein, daß
der Arbeitnehmer die amtierende Regie
rung verneint oder deren Feind ist, son
dern er muß mit dieser Regierung, um
seine sozialen und arbeitsrechtlichen Be
lange ringen. Zusammengefaßt beißt das
nichts anderes, als der Arbeitnehmer
führt einen gesellschaftlichen Kampf.
Der einzelne wird niemals in der Lag«
sein, wirksam und erfolgreich ge
sellschaftlich kämpfen zu können. Das
kann er nur ira großen Verband, d. h.
Sind denn die Opfer schuldig?
Noch steht die ganze Welt unter dem
tiefen Eindruck der Ereignisse in Ber
lin und in der Ostzone am 17. Juni 53,
da versucht die „Neue Zeit“ ihren Le
sern klar zu machen, das Aufbäumen
einer gequälten Bevölkerung gegen die
Zwangsmaßnahmen eines in dogmatischer
Verranntheit unerbittli hen Regimes- sei
lediglich das Werk unverantwortlicher
Provokateure im Dienste der Westmächte.
Nicht die Tatsache berührt sie, daß Ar-
beiterblut vergossen wurde, das Blut von
Arbeitern, die für ihre Freiheit und men
schenwürdige Bedingungen auf ihren Ar
beitsplätzen demonstrierten, sondern stellt
fest, politische Hasardeure und Maro
deure seien gegen eine gerechte Ordnung
Sturm gelaufen. Der Nationalpreisträger
Kuba (Kurt Bartel) schreibt wörtlich u.
a. (veröffentlicht in der ..Neue Zeit“
vom 7. 7. 1953) unter „Wie ich mich
schäme“:
„Maurer - Maler - Zimmerleute.
Sonnengcbräunte Gesichter unter weiß-
leinen Mützen, muskulöse Arme, Nak-
ken — gut durchwachsen, nicht
schlecht habt ihr euch in eurer Re
publik ernährt, man konnte es sehen.
Vierschrötig kamt ihr daher. Ihr
setztet euch in Marsch, um dem Mini
sterium zu sagen, daß etwas nicht
stimmt. Es stimmte auch etwas nicht,
nämlich im Lohnbeutel: dagegen setzt
man sich zur Wehr. Das ist richtig.
Dazu habt ihr euer gutes, durch Ge
setze gefestigtes Recht auf freie Mei
nungsäußerung.“ .....
„Die Volkspolizei ließ euch ziehen.
Sicher hätte die Volkspolizei eingrei-
fen können, schließlich hat sie Waf
fen 1 Sie schoß nicht! Warum wohl
nicht?“
„Eine kleine Bewegung mit dem
Zeigefinger hätte genügt, um dem gan
zen Schwindel ein jähes Ende zu berei
ten. Diese kleine Bewegung mit dem
Zeigefinger unterblieb. Unterblieb nicht,
weil die Volkspolizei Angst hatte, son
dern weil sie sehr, sehr mutig war.
Für diesen Mut wird man der Deut
schen Volkspolizei künftig nicht nur
in Deutschland, sondern überall, wo
Menschen wohnen, die den Frieden
lieben, sehr dankbar sein.“ (?) ....
„Das war schon ein Zimmermaun.
Der Hut zünftig 1 Sammetweste und Jak
kett, Knöpfe, da war alles dran. Die
Hose weitausladend, wie es sich ge
hört.
Hättet ihr ihm unter den Hut ge
guckt, nur unter den Hut — an der
Frisur hättet ihr erkannt, was das für
ein Zimmermann war.
ln seiner Gewerkschaft. Ob wir wollen
oder nicht, wir müssen den Weg zum
gesellschaftlichen Kampfe beschreiten,
wenn wir als Gewerkschaften wirksam
bleiben wollen.
Wenn wir bis heute erleben mußten,
daß viele Aktionen der Arbeitnehmer
schaft zur Erreichung besserer Lebens-
bedingungen gescheitert sind, so lag das
meistens daran, daß diese Kämpfe nicht
richtig vorbereitet waren. Um einen
Kampf zu führen, bedarf es einer gei
stigen und moralischen Vorbereitung. Es
geht bei keinem Kampf nur um eine
Ein Sargmacher führte euch — ein
Totengräber.
Als wenn man mit der Flachen Hand
ein wenig Staub vom Jackett putzt,
fegte die Sowjetarmee die Stadt rein.
Zum Kämpfen hat man nur Lust,
wenn man Ursache dazu hat, und
solche Ursachen hattet ihr nicht. Eure
schlechten Freunde, das Gesindel von
drüben, strich auf seinen silbernen
Fahrrädern durch die Stadt wie
Schwäibehen vor dem Regen.
Dann wurden sie weggefangen.
Ihr aber dürft wie gute Kinder um
neun Uhr abends schlafen gehen. Für
euch und den Frieden der Welt wachen
die Sowjetarmee und die Kameraden
der Deutschen Volkspolizei.
Schämt ihr euch auch so, wie ich
mich schäme?
Da werdet ihr sehr viel und sehr
gut mauern und künftig sehr klug han
deln müssen, ehe euch diese Schmach
vergessen wird.
Zerstörte Häuser reparieren, das ist
leicht. Zerstörtes Vertrauen wieder auf
richten ist sehr, sehr schwer.“
Also Grund hattet Ihr nicht, Ihr To
ten vom 17. Juni 1953, Euch gegen ir
gend etwas aufzulehnen! Es war reiner
Uebermut, der Euch den Verführern fol
gen ließ!
So meint Herr Kuba, während die Ge
werkschaften in der ganzen Welt sich
vor den Opfern des 17. Juni verneigen.
Ob man den Zynismus höher steigern
kann. Wir jedenfalls sind nicht der An
sicht, daß die Polizei- und Militärmacht
das unschuldige Opfer der gefallenen
Arbeiter war.
Glaubt man denn im Ernste, daß sich
eine Volksmenge allein durch Provoka
teure habe hinreißen lassen, unbewaffnet
gegen schwerste Waffen Sturm zu lau
fen, wenn nicht höchste Erbitterung und
tiefste Verzweiflung sie getrieben hätte,
eine Verzweiflung, die auch aus Brie
fen, die uns von. drüben erreichen, zum
Ausdruck kommt.
Uns erschüttert die Tatsache, daß Ar
beiter, Menschen wie Du und Ich, ihr
Leben lassen mußten, und noch achten
wir jedes Menschenleben viel zu hoch,
als daß wir uns nicht in tiefer Ehr
furcht vor den Opfern des 17. Juni ver
neigen müßten.
Wir erklären aber auch unrmßver-
verständlich, daß unser Herz für und
mit den Arbeitern in der ganzen Welt
schlägt, die mit den herrschenden Kräf
ten um ihre elementarsten Menschen
rechte kämpfen müssen.
kleine Lohnerhöhung, sondern es geht
darum, in erster Linie die Macht zu
demonstrieren und die herrschenden Ge
walten dadurch zu beeinflussen, den ge
stellten Forderungen entgegen zu kom
men. Je mehr die Arbeitnehmerschaft bei
ihrem gerechten und berechtigten Kampfe
weiß, daß ea um tiefere Dinge geht, d.
h. um ein geschichtliches Ereignis, das
durch die allgemeine Entwicklung seiner
Lösung näher gebracht werden muß, um
somehr kämpft sie entschlossen und sie-
essicher, weil sie weiß, daß die Zu-
unft auf ihrer Seite liegt.
Ausreichende ßiierBversorgung tue alle
Eine Zuschrift au» Mitgliederkreiscn.
Nachstehend bringen wir eine Zuschrift
in der Frage der gerechten Altersver
sorgung, die wir wegen ihrer sachlichen
und von tiefem Gerechtigkeitsempfinden
getragenen Ueberlegungen unsern Lesern
nicht vorenthalten möchten.
Das Problem brennt auf den Nägeln,
und wir brauchen die Mitarbeit aller!
Wenn man so im täglichen Leben ganz nüch
tern seine Gedanken der „Altersversorgung"
zuwendet, so tritt bei einer sehr großen Zahl ,
schaffender Menschen, Arbeiter sowohl wie An
gestellte, die Frage aufs Was wird, wenn du
einmal alt sein wirst, wenn du aus dem Arbeits
prozeß ausscheidest, wenn dein Einkommen nur
aus der Invaliden- oder Angestellten-Versiche-
rungsrente besteht?
Es soll nicht bestritten werden, daß der Krieg
mit seinen unseligen Nachwirkungen alles das,
was bis dahin geschaffen worden war, in ein
Nichts verwandelte. Es muß auch anerkannt
werden, daß alle Körperschaften, die sich da
für verantwortlich fühlen, sich bemühten, das
soziale Werk der Altersversicherung wieder er
stehen zu lassen und sogar den Verhältnissen
entsprechend zu verbessern; das sei in aller
Oeffentlichkeit dankend anerkannt. Es kann
also an dem ehrlichen Willen dieser Verant
wortlichen nicht der geringste Zweifel aufkoin-
men. Aber wie bis jetzt feststeht (Ich denke
dabei an die Hüttenknappschaftliche Pensions-
versieherung) sind es nur gewisse Betriebszwei
ge, wie Bergbau, Hüttenwerke usw., die neben
ihrer Invaliden- oder Angestelltenrente, eine
gesetzliche, mit Staatszuschüssen garantierte
zusätzliche Pensionversicherung haben. Große
Volksteilo bleiben leider diesen genannten Be
trieben gegenüber benachteiligt. Ich will nicht
näher darauf eingehen, wie weit diese Ungleich
mäßigkeit Ln der Altersversorgung auf den in
neren Wirtschaftsfrieden störeffnwirken kann.
An den Vertrauensmann i,n den Betrieben wix<f
fast täglich von seinen Mitarbeitern die Anre
gung herairgetragen, doch an einer gerechten
Lösung dieser Frage mitzuarbe-iten. Sie ist nicht
so einfach zu beantworten, wie sie gestellt ist,
denn es ergeben sich sehr viele Schwierigkeiten
beim Einbau weiterer Kreise in die zusätzlichen
gesetzlichen Pensionsversieherungen. Wäre es
deshalb nicht vom Gesichtspunkt der Vernunft
und des Fortschritts besser, wenn man die bei
den bestehenden Versicherungen. Invaliden- u.
Angestelltenversicherung, in der Form ausbauen
wollte, daß alle im Staat beim Ausscheiden au»
dem Arbeitsprozeß von einer großen Snrge be
freit wären!
Die Zuschüsse, die der Staat den zusätzlichen
gesetzlichen Pensionsversicherungen zuzuführen
gedenkt, sollte man. dann doch lieber der Inva
liden- und Angestelltenversicherung Zuschießen.
Bei sachlicher und fachlicher Ueberprüfung
müßte sich dann doch die Tatsache ergeben,
daß das Problem der Altersversorgung auf dies«
Art viel leichter und vor allein viel gerechter
zu lösen wäre. Viel böses Blut wäre beruhigt
und alle Berufe wären erfaßt. Die von den
Versicherten zu leistenden Mehrbeiträge wären
dann auch sicher nicht so hoch, wie bei der
Zugehörigkeit zu den zusätzlichen Pensionsver
sicherungen. Sollte man da nicht doch über all«
Klippen gegenseitigen Mißverständnisses hin
weg zu einer Lösung kommen, die in ihrem
Endergebnis und in ihren praktischen Auswir
kungen zum Wohle aller Schaffenden aus-
sohlagen dürfte. Aller Streit und Hader auf
dem Gebiete der Altersversorgung wäre damit
vermieden.
Vorstehende Gedankftngange, kurz zusam-
mengefaßt, erstreben also folgende Lösung:
Nioht»chaffung neuer Versieh srungsein-
riohtungen, die nur einem Teil der schaffenden
Menschen zugute kommen, sondern
Ausbau der bestehenden Versicherung, An
gestellten- und Invalidenversicherung, die alle
versicherungspflichtigen Arbeitnehmer umfaßt
und allen Schaffenden beim Eintritt der In
validität gleichmäßig« Versorgung garantiert.
Ein alter Gewerkschaftler
Unser Kollege August Weis wird
am 25. Juli 1953 82 Jahre alt.
Seit 1898 ist August Weis ein eif
riger Mitkämpfer der Arbeiterbe
wegung, mit der er heute noch in
hohem Alter eng verbunden ist.
Wir wünschen unserem alten
Freunde für seinen weiteren Le
bensabend alles Gute und hoffen,
daß er uns in seiner erfreulichen
Rüstigkeit noch lange erhalten
bleibt.
Für den Landesverband:
Richard Pauch.
iOERDE MITGLIED
ES LOHNT SICH
KONSUMGENOSSENSCHAM
SS
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