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Oktober 1950
Entlassen - weil unorganisiert
Um die Freiheit, sich gewerkschaftlich zu organisieren oder nicht - Arbeits
gericht in der Bundesrepublik weist Klage eines Unorganisierten ab
Die starke Zumutung, daß organisierte Arbeitnehmer mit Unorganisierten Zusam
menarbeiten mußten, hat ein aufgeschlossenes Arbeitsgericht veranlaßt, eine Hal
tung einzunehmen, die in all§n Kreisen größte Beachtung verdien«. Mit dieser
Feststellung wird von aibeitsgerichtlicher Seite her deutlich das unmoralische Ver
halten der Unorganisierten gegeißelt und daraus der Schluß gezogen, daß den or
ganisiertem Arbeitern die weitere Zusammenarbeit mit Unorganisierten nicht zu
gemutet werden kann.
Der nachstehend im einzelnen dargelegte Vorgang und die Haltung des Arbeits
gerichts beruhen auf der beherzten Stellungnahme der Belegschaft eines Betriebes
In der Bundesrepublik.
Laut Arbeitsgerichtsurteil des Arbeitsgerichts in Hameln (Niedersachsen) vom
11. Juli 1950 wurde die Klage einas Unorganisierten gegen seinen Unternehmer an
gewiesen. Der Unternehmer hatte den Kläger entlassen, weil die übrige Beleg
schaft sich geweigert hatte, länger mit einem Unorganisierten zusammenzuaibeften.
Dieses Urteil wurde von
der Unlernehmerpresse
und einem Teil der so
genannten neutralen
bürgerlichen Presse, be
sonders durch die „Dei
ster- und Weserzeitung“
in Hameln, zum Mittel
punkt einer großen öf
fentlichen Diskussion
gemacht. Die Presse der
Unternehmer, die im all
gemeinen keinen großen
Respekt vor persönlicher
Freiheit und Demokratie
an den Tag legt, wenn
es um den eigenen Pro
fit geht, versucht hier, sich als Wahrenn
der persönlichen Freiheit und der Demo
kratie aufzuspielen und zetert über „Dik
tatur und Vergewaltigung“ durch die Ge
werkschaften, die durch das Urteil des
Arbeitsgerichtes jetzt auch noch sanktio-
xueri worden wären.
Das hier zu Debatte stehende Problem
ist nicht neu. Solange es Gewerkschaf
ten gibt, hat die Frage, ob es rechtlich und
moralisch vertretbar ist, einen Arbeitneh
mer zum Beitritt zu einer Gewerkschaft zu
zwingen, in allen Ländern, besonders in
Amerika, immer wieder eine große Rolle
gespielt.
Die Gewerkschaften in Deutschland ha
ben in ihren Statuten die Bestimmung, daß
die Mitgliedschaft freiwillig ist. Diesen
Grundsatz vertreten sie nach wie vor.
Aber damit allein ist das Problem noch
nicht gelöst. Die Frag« heißt:
Kann es der gewerkschaftlich organi
sierten Mehrheit eines Betriebes zugemu
tet werden, mit einem Menschen zusam
menzuarbeiten, der zwar die von den Ge
werkschaften mit schweren Opfern errun
genen VorUife (Kürzung der Arbeitszeit,
ausreichenden Lohn, Ueberstundenzu-
schlag, Urlaub üsw.) für sich beansprucht,
sich aber weigert, mit seinen Mitarbeitern
zusammen durch Leistung der Gewerk
schaftsbeiträge die Voraussetzungen für
die Erzie'mg dieser Vorteile zu schaffen?
Im allgemeinen vertreten die Gewerk
schaften die Auffassung, daß die Nicht
organisierten durch Aufklärung überzeugt
werden sollen, aaß es nicht nur im Ge
samtinteresse der Belegschaft, sondern in
dem jedes einzelnen liegt, der Gewerk
schaft beizutreten, weil nur durch die Ei
nigkeit der Arbeitnehmer alle Verbesse
rungen der Lohn- und Arbeitsbedingungen
erzielt werden können.
Wenn aber ein Nichtorganisierter aus
egoistischen Gründen diesen Argu
menten nicht zugänglich ist und sich
beharrlich w eigert, einer Gewerkschaft
beizutreten, dann kann man es den
übrigen Kollegen nicht verdenken und
verwehren, wenn sie nicht bereit sind
zu weiter er Zusammenarbeit mit einem
so unsolidarischen Mitarbeiter.
Moralisch ist dieser Gesichtspunkt in
jeder Hinsicht richtig und vertretbar. Wi«
aber steht es juristisch?
Das Grundgesetz gewährt in Artikel 9
prinzipiell die positive Koalitionsfreiheit.
Danach hat jeder Deutsche das Recht, zur
Wahrung und Durchführung seiner Wirt
schafts- und Arbeitsinteressen Vereini
gungen zu bilden, und alle Maßnahmen,
die dieses Recht einschränken oder seine
Ausübung zu hindern versuchen, werden
für ungesetzlich erklärt. Dieses positiv«
Koalitionsrecht schließt aber auch das
negative in sich, wie das Arbeitsgericht
Hameln bei seiner Entscheidung weiter
folgerte. Somit hat jeder Deutsche auch
das Recht, den Beitritt zu einer solchen
Organisation zu verweigern. Aber auch
in der denkbar besten Demokratie gibt es
keine unbeschränkte Freiheit.
Die Freiheit des einzelnen hat dort ihr«
Grenzen, wo sie die Freiheit anderer und
der Gesamtheit beeinträchtigt.
Genau so wenig, wie dem Unorgani
sierten der Beitritt in eine Berufsorgani
sation gesetzlich aufgezwungen werden
Mißtrauen für Betriebsrat bei V. & B. Merzig
Einstimmige Forderung auf Abberufung — Bildung einer Lohnkommission.
Die am vorvergangenen Sonntag im
iaale Bell in Merzig durchgeführte Gene
ralversammlung des I. V. Fabrikarbeiter
aßte einstimmig mehrere Beschlüsse und
vählte einen neuen Vorstand. Nachdem
der Kollege Schreier die Versammlung
eröffnet und die Gäste begrüßt hatte,
übergab er das Wort dem Kollegen
Kuhnen, der über die Mißverhältnisse
in Lohn- und Preisfragen referierte. Es sei
'war lobend anzuerkennen, daß die Be-
riebsleitung einen Vorschuß für die kom
aende Lohnerhöhung gezahlt habe, daß
lies aber für den Arbeitnehmer solang«
rein positiver Erfolg sei, bis endgültige
1 arifverträge abgeschlossen seien. Der
tedner forderte die sofortige Zusammen
setzung einer Lohnkommission, die die
Grundlagen eines neuen Tarifes auszu
arbeiten und mit Nachdruck bei der Be-
riebsleitung zu fordern habe. Dieser An
rag wurde einstimmig angenommen und
iie Mitglieder der Lohnkommission aus
allen Abteilungen gewählt. Der Kollege
leubecker, 2. Vorsitzender des Indu-
ürieverbandes, zeigte mit deutlichen Bei
spielen die Folgen der Zersplitterung der
Arbeiterschaft auf. Er appellierte an die
Tewerkschaftüche Gesinnung der Berufs-
ameraden, daß, wenn die Pflicht sie ruft,
;ie für ihre Forderungen das letzte ge
werkschaftliche Mittel einsetzen müßten.
Me Vorschußzahlung sei nicht als voll
wertig zu bezeichnen. Zum Beispiel, wenn
s zu keinem neuen Tarifvertragsabschluß
äme, könne die Vorschußzahlung auf den
Mten Lohn wieder in Anrechnung gebracht
werden. Trotzdem wird die Gewerkschaft
’as zu verhüten wissen.
Nachdem die Kollegen Schreier, Streit
nd Hermann ihre Rechenschaftsberichte
'bgegeben hatten, wurden in der Diskus
ion alle brennenden Fragen ausführlich
©handelt. U. a. wurde die sofortige Ab
berufung des Betriebsrates in einer Beleg-
Schafts Versammlung gefordert. Df© Ver-
rammlung sprach auf Grund unliebsamer
atsachen dem Betriebsrat, außer dem
Vorsitzenden, das Mißtrauen aus. Eine
-je, egschaftsversammlung habe sich mit
dieser Frage eingehend zu beschäftigen.
Die Wahl des neuen Vorstandes hatte
felgendes Ergebnis:
1- Vorsitzender: Johann Qasptr,
2. Vorsitzender: Schreier,
Kassierer: H e r m a n n,
Schriftführer: Streit,
1. Beisitzer: Peter Adler,
2. Beisitzer: Fox.
Nach einer Stellungnahme des 1. Vorsit
zenden zu den brennendsten innerbetrieb
lichen Problemen und der Schlußanspra
che wurde die Versammlung in voller Ein
mütigkeit geschlossen.
*
Als am Montag, dem 2. Oktober, di«
Einheitsgewerkschaft zu einer allgemeinen
Protestaktion aufrief, legten einige Abtei
lungen bei der Firma Vilieroy & Boch in
Merzig die Arbeit nieder. Wie wir aus zu-
verlässigerQuelle erfahren, fand zwischen
Betriabsteihmg und den Vertretern beider
Gewerkschaften eine Aussprache statt.
Das Ergebnis war, daß der 1. Vorsitzende
der christl. Gewerkschaft, als er die Ar-
beitshallen aufsuchte, erklärt«, daß er es
ab 1 ebne, zu streiken. Es sei noch bemerkt,
daß dieser Streikbrecher genau den g’ei-
chen Befehl zum Streiken wie die Eiubeits-
gewerkschaftler erhalten hatte. Nachdem
dieser seinen Einfluß bei einem gewissen
Teil der Belegschaft geltend machen konn
te, wurde die Arbeit gegen 16 Uhr wieder
aufgenommen.
Der 1. Vorsitzende der CGS hat durch
sein Verhalten gegenüber der Belegschaft
seine schon immer sichtbare Abhängig
keit von der Betriebsleitung erneut bewie
sen. Seinen organisierten Kameraden
schlug er damit mit der Faust ins Gesicht.
Zahlreiche Mitglieder haben die Konse
quenz bereits gezogen und sind zur Ein
heitsgewerkschaft übercetrefen. Es ist un
sere Pflicht, darauf aufmerksam zu ma
chen, daß dta Betriebsleitung vielleicht
nicht ohne Hintergründe an einem Mon
tag die vergangenen Feiertage, am Diens
tag die Familienzulagen, am Freitag den
Wochenlohn und am Samstag die Vor
schußzahlung für die kommende Lohner
höhung auszahlte. Daß sie damit einen
bestimmten Zweck verfolgen wollte, liegt
allzu nahe.
Mögen noch mehr Belegschaftsmitglie
der endlich erkeanew, zu welchem Typ dev
oben erwähnte „Afbeütervertr»ter ‘ w
sähien ist.
kann, genau so wanig kann man eine or
ganisierte Arbeitnehmerschaft zwingen,
mit einem Unorganisierten zusammenzu-
arbeiten. D.e Folgen seines Verhaltens
hat daher der Unorganisierte selbst zu
tragen.
Der Bauunternehmer wurde mit der Be
gründung freigesprochen, daß er der Ge
fahr ausaesetzt war, durch die Weiterbe
schäftigung des Unorganisierten seine
ganze übrige, fast hundertprozentig orga
nisierte Belegschaft von Facharbeitern zu
verlieren und dadurch an der rechtzeiti
gen Fertigstellung termingebundener Auf
träge gehindert werde. Der Arbe ; tgeber
habe daher dem Unorganisierten nahege
legt, doch einer Gewerkschaft beizutreten.
Das müsse ihm um so leichter fallen, als
die Gewerkschaft mit Rücksicht auf seine
mißlichen materiellen Verhältnisse bereit
wäre, ihm bei der Beitragsfestsetzung
weitgehend entgegenzukommen. Als der
Arbeiter trotzdem bei seiner Ablehnung
blieb, entließ ihn der Arbeitgeber unter
Einhaltung der vorschriftsmäßigen Kündi
gungsfrist. Damit wären auch die gesetz
lichen Bestimmungen eingehalten worden.
Ein Arbeitsvertrag ist eine von beiden Sei
ten freiwillig abgeschlossen© Vereinba
rung. Es gibt keine gesetzliche Bestim
mung, die einen Unternehmen zwingt, ei
nen ganz bestimmten Arbeiter zu beschäf
tigen. Auch eine gesetzlich unzulässige
willkürliche Entlassung komme hier nicht
in Frage, denn der Unternehmer habe sich
in einer Notlage befunden und aus dieser
heraus gehandelt.
Das ist die rechtliche Seite dieses Fal
les. Doch ist die Entscheidung des Ar
beitsgerichtes noch nicht endgültig, weil
der abgewiesene Kläger dagegen Beru
fung beim Ländes-Arbeitsgericht in Han
nover eingelegt hat.
Bezeichnend dabei ist — und damit
kommen wir zu der von der Untemeh-
merpresse aufgeworfenen Machtfrage —,
daß dar mittellose Hilfsarbeiter die mit
erheblichen Kosten verknüpfte Berufungs
klage einreichte und auch bereits einen
Rechtsanwalt zu seiner Verteidigung hat,
ohne das ihm zustehende Armenrecht zu
beanspruchen. Es besteht aber kaum ein
Zweifel, daß das zahlungskräftige Unter
nehmertum hinter dem unorganisierten
Kläger steht. Von seinem Standpunkt be
fürchtet es — nicht mit Unrecht —, daß
das Arbeitsgerichtsurteil von Hameln zur
allgemeinen'Rechtsauffassung wird. Das
könnte die unangenenme Folge hauen,
daß den Unternehmern die Begünstigung
nichtorgamsierter Arbeiter und due da
durch erstrebve Schwächung und Aus-
sc lai-ung des gewerkschaftlichen Einflus
ses erschwert wird.
Diese rein materielle, machtpoütische
Seite der Angelegenheit ist dia alleinige
Ursache der künstlichen Entrüstung dar
Unternehmer, rhr Ga schrei über „Dikta
tur“ und „Beeinträchtigung demokrati
scher und persönlicher Freiheit“ ist daher
nichts anderes als eine fadenscheinig«
Tarnung ihres materiellen Zweckes. Ist es
doch tausendfach erwiesen, daß dieselben
Untemehmerkreise auf Demokratie und
persönliche Freiheit der Arbeiter pfe.ten,
wenn sia mißliebige Gewerkschaftler ent
lassen und rücksichtslos aui die Straße
setzen.
Aach für die Gewerkschaften und die
gewerkscha tiieh organisierten Arbeitneh
mer geht es hier um sahr reale Dinge. Sie
haben dazu aber auch das juristische und
das moralische Recht auf ihrer Seite. Im
schweren Kampf um die Durchsetzung ih
rer Forderungen ist der sich beharrlich
weigernde Unorganisierte ein Schädling.
Er verweigert nicht nur seinen gewerk-
schait ichen Beitrag, sondern wird in neun
von zehn Fällen als Streikbrecher seinen
Kollegen in den Rückan fallen, wann die
se geswungen werden, mit dem Mittel des
Streiks ihre berechtigten Forderungen
durchzusetzen odar Verschlechterungen
abzuwehren. Daher muß sein Verhalten
als asozial und undemokratisch ange e-
hsn werden. Gäbe es eine wirklich
schrankenlose persön’iche Fraihe i, dann
wären auch alle Gesetze eines demokra
tischen Staates, die den einze nen zu oft
recht unbequemen Pflichten (wie z. B. zum
Steuernzahlen) zwingen und Ihn dadurch
in seiner persönlichen Freiheit beeinträch
tigen, moralisch nicht gerechtfertigt. Kein
vernünftiger Me isch wird aber d e-e
Grundsätze als freiheitlich und demokra
tisch verteidigen woben.
Abschließend sei gesagt: die Gewerk
schaften bestehen auf der Freiwilligkeit
der Mi g'iedschait, sie lehnen jede Art von
Gewaltmaßnahmen gegenüber den Unor
ganisierten ab. Aber s'e wehren sich
ebenso entschieden dagegen, daß ibra Mit
glieder gezwungen werden soften, mit be
wußt asozialen Elementen zusammenau-
arbeiten. AE.
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