Full text: 5.1950 (0005)

5. J ah t gang 
Saarbrücken, 10. September 1950 
Nr. 17 
ui 
Im Stadium der Entscheidung 
Beschlüsse einer ausserordentlichen Sitzung des Gewerkschaftsausschusses - Unerträgliche Versdileppungs- 
politik der Arbeitgeber - Gefahr für den sozialen Frieden - Im Kampf gegen die Teuerungswelle - 
Gefestigte Solidarität der Arbeitnehmer - Sofortige Verhandlungen mit der Regierung dringend erforderlich 
Da infolge der anhaltenden willkürlichen und erheblichen Preissteigerungen die Lage für die Arbeitnehmerschaft uner 
träglich geworden ist, hat die Einheitsgewerkschaft den Beschluß gefaßt, alle Mittel anzuwende®, um unter allen Umstän 
den eine wei.e.e Verelendung der Arbeitnehmerschaft abzuwenden. Die dazu erforderlichen Maßnahmen wurden In einer 
außerordentlichen Sitzung des Gewerkschaftsausschusses am 4- Sept. geprüft und einstimmig beschlossen. 
In grundsätzlichen Ausführungen wurde 
die iTage vom gewerkschaftlichen Stand 
punkt aus eingehend erörtert. Die an 
wesenden Ve-treter des Gewerkschafts- 
ausschusses waren sich des Ernstes der 
Lage, und dar Dringlichkeit, eine Lösung 
herbeizufülven, bewußt. 
Kollege Wacker gab zunächst ein Bild 
ider Gssamtlage. Er wies auf die viel 
fachen Bemühungen hin, die in der Ver 
gangenheit gemacht wurden, um schon 
Von Anfang an gegen die für die Arbeit 
nehmerschaft unerträgliche Lage von Ge- 
werkschaftsseiie aus aufmerksam zu 
machen. In mehreren mündlichen und 
schrift'ichen Auseinandersetzungen mit 
dem Hohen Kommissar und Regierungs 
stellen sei darauf aufmerksam gemacht 
worden, daß trotz d£r Vollbeschäftigung 
tind der Leistungssteigerung die Arbeit 
geber stets versuchten, irgendwelche Kri 
senerscheinungen auf die Arbeitnehmer 
ebzuwälzen. Das habe sich bei den Feier 
schichten im Saarbergbau und bei ande 
ren Maßnahmen gezeigt. Was bisher ge 
tan worden sei, um einen Ausgleich zwi 
schen Löhnen und Preisen irgendwie zu 
erzielen, sei fruchtlos geblieben. 
In weiteren Ausführunge i stellte Kolk 
Wacker lest: Jahrelang haben die Arbeit- 
jfe gebsx.XSiÜlöudlungen über die Löhne un- 
^ - ter Bezugnahme auf d.e von der franzö 
sischen Regierung varoecchriebene Lohn- 
poli i.< abgelehnt. Sie behaupteten auch, 
die Steuern für dia Unternehmer seien im 
Sac.iand höher als in Frankreich. Eine 
Untersuchung hat aber ergeben, daß die 
Steusrbelastung d eselbe ist. V/as mittel- 
und langfristige Kredite angeht, so ist 
festzustellen, daß die Marshall-Hi’fe an 
der Saar im Gegensatz zu Frankreich und 
zu Deutsch’and praktisch nicht im ent 
sprechenden Rahmen durchgeführt wurde. 
Trotz der sogenannten Notlage der 
Saarwirtschaft sei aber darauf aufmerk 
sam gemacht, daß in den letzten Jahren 
von der saarländischen Geschäftswelt 
bei unseren Banken enorme Beträge ange 
legt werden konnten. Im Jahre 1949 allein 
10 Milliarden Francs, also Beträge, die 
Hoch nach starken Investitionen übrig 
Waren. 
Berücksichtigt man, daß eine Produkti- 
onss eigsrung von rund 50o/ 0 eingetreten 
ist, ohne daß wesentlich mehr Arbeitneh 
mer im Saarland neu hinzukamen, — der 
Zugang beträgt etwa 5 000 Personen — 
dann muß man sich wirklich fragen: Wo 
Ist der Anteil des Arbeitnehmers cn die 
ser Produktionszunahme geblieben? 
Mit den Preisermittluncen des Statisti 
schen Amtes und seinen sonstigen Auf 
stellungen können wir uns nicht einver 
standen erklären. Dessen Zusammenstel 
lung ergibt ein falsches Bild der wirklich 
vorhandenen Teuerung. Daher hat die Ein 
heitsgewerkschaft eine eigene Preisgegem-. 
(ibersfe’lung vorgenommen. Die Tabelle 
berücksichtigt jedoch nur die Preissteige- 
BiiiifßfiiiiiiiiiiiiiiniiiiiiiiiitiiiiiiiiiiiimiiiimiiimiimiiflHiimmmiiitiiiiiHiiimiiiimi 
Aus dem Jjthalt: 
Dringende Eingabe an Regierung und 
Hohes' Kommissariat 
» * , . 
Preisindex, wie ihn die Arbeiterhaushalte 
kennen 
* 
Wirtschaftslage und Angestelltenschaft 
* 
Jahreskongreß der Vereinigung 
der Körperbehinderten. 
* 
I. V.-Post und Fernmeldewesen 
« 
Rechenschaftsbericht 
aus Saarlouis—Dillingen 
* 
Protest aus St. Ingbert 
* 
Schwarzarbeit im Rampenlicht 
Post aus dem Ausland 
* 
Briefkasten 
rung bis Ende August, also nicht mehr die 
Jetzten erheblichen Erhöhungen. 
(Tabelle siehe Seite 4) 
In der langen Zeit, in der diese gewalti 
gen Preissteigerungen erfolgten, ist kaum 
eine nennenswerte Lohnerhöhung erfolgt, 
von den erst in letzter Zeit eingetretenen 
Einzelerhöhungen abgesehen. 
Die Teue ungswelle ist um .seres E rach- 
tens durch nichts gerechtfertigt, denn in 
der ganzen Welt ist gerade in den wichti 
gen Nahrungsmitteln dieses Jahr eine Re 
kordernte zu verzeichnen. Ausgerechnet 
in dieser Periode setzt eine Teuerungs 
welle ein. Und was tut die Regierung? 
V/as die Konkurrenzfähigkeit anbetrifft, 
so wissen auch die Gewerkschaftler, daß 
die saarländische Wirtschaft nicht höher 
belastet sein darf als die französische, 
nachdem wir ein einheitliches Wirtschafts 
gebiet geworden sind. Aber hierbei darf 
die Produktionskapazität und -Steigerung 
nicht übersehen werden. Es muß Aufgabe 
der Saarregierung sein, die individuellen 
Verhältnisse unbedingt zu berücksichti 
gen. Die Gewerkschaft hat dies wiederholt 
deutlich sowohl beider Regierung u. beim 
Hohen Kommissariat hervorgehoben. So 
hat z. B. beim Bergbau die Leistung mit 
1549 kg Tagesförderung pro Kopf die Re 
kordhöhe von 1938 erreicht. Die französi 
sche Durchschnittsleistung liegt über 200 
kg niedriger. Aehnlich liegen die Ver 
hältnisse in der Schwerindustrie und in 
-anderen Industrien. Wenn im französi 
schen Rundfunk ein Arbeitgebervertreter 
kürzlich erklärt hat, daß für die franzö 
sische Wirtschaft die neu festgesetzten 
Mindestlöhne untragbar seien, weil seit 
dem vergangenen Jahr keine Leistungs 
steigerungen festzustellen seien, so kann 
dies — vorausgesetzt, daß diese Behaup 
tung überhaupt zutrifft — kein Grund für 
die Saarregierung sein, denselben Stand 
punkt einzunehmen, denn an der Saar be 
wegen wir uns durchweg in einer aufstei 
genden Leistungskurve. Selbst ohne die 
(Fortsetzung Seite 2) 
Die Entschließung des Gewerkschaftsausschusses 
Der am 4. September 1950 in Saarbrücken tagende Geweikschaftsausschuß der 
Einheitsgewerkschaft der Arbeiter, Angestellten und Beamten nahm Stellung zu 
der allgemenen wirtschaftlichen Lage der saarländischen Arbeitnehmerschaft. Er 
stellt mit ernster Sorge fest, daß durch die in den letzten Wochen erfolgte er 
neute willkürliche und durch nichts gerechtfertigte Steigerung der Preise der 
lebensnotwendigsten Varbrauchsgüter eine weitere Verelendung der arbeitenden 
Menschen eingetreten ist. 
Der Gewerkschattsausschuß stellt mit Bedauern fest, daß die verantwortungs 
bewußte Haltung und alle Bemühungen der Einheitsgewerkschaft in der Vergan 
genheit. eine Beseitigung der immer größer gewordenen Spanne zwischen Preisen 
und Löhnen herbeizuführen, völlig unbeachtet geblieben sind. 
Der Gewerkschaftsausschuß stellt weiter fest, daß trotz den Auswirkungen des 
2. Weltkrieges dank des Fleißes und desVerantwortungsbewußtseins der saarlän 
dischen Arbeitnehmerschaft die Produktionsleistungen zum großen Teil ln den 
verschiedensten Wirtschaftsgruppen die Friedenshöhe wieder erreicht, teilweise 
sogar überschritten haben, während die Löhne und Gehälter, die von dar saar 
ländischen Industrie z. Zt. bezahlt werden, in derselben Zeit kaufkraftmäßig um 
25—30 Oo zurückgeblieben sind. 
Auf Grund der Tatsache, daß die Produktionssteigerung in den Jahren 1948 
und 1949 fast 50 o/o beträgt, während in derselben Zeit Löhne und Gehälter kaum 
eine Verbesserung erfahren haben, die Preissteigerungen" selbst also bi keinem 
Fall auf Lohnerhöhungen zurückzuführen sind, richtet der Gewerkschaftsausschuß 
der Einheitsgewerkschaft die dringend® Mahnung an die Regierung des Saarlan 
des, der willkürlichen Preisentwicklung mit allen Mitteln entgegenzutreten, da die 
verantwortlichen Funktionäre der-Gewerkschaftsbewegung unter diesen Umstän 
den in nächster Zukunft jede Verantwortung für die Auf rech terhaltung des sozia 
len Friedens ablehnen müssen und andererseits es als ihre Pflicht erachten, die 
pe-echten Forderungen der Arbeitnehmerschaft mit allen ihnen zu Gebote stehen 
den Mitteln zu unterstützen. 
Die in den Kreisen der werktätigen Bevölkerung durch die unter diesen Umstän 
den geschaffene Situation den sozialen Frieden bedrohende Beunruhigung, hat 
den Gewerkschaftsausschuß der Einheitsgewerkschaft veranlaßt, die auf dem 
Verordnungsweg Erlassene Heraufsetzung des Existenz-Minimums 
auf 74.10 frs. in Zone I 
auf 70 20 frs. in Zone II 
- auf 66.30 frs. in Zone III 
und auf 64,00 frs. in Zone IV 
als ungenügend zu bezeichnen und erneut und allen Ernstes folgende Forderungen 
auf zu stell ?n: 
1. Festsetzung des Exi c tenzminimums gemäß unserer Forderung vom 28. Fe 
bruar 1950 auf 18 500.— Frs. 
2- Endgültige Beseitigung der bestehenden Lohnzoneneinteilung gemäß un 
serer wiederholt an die Regierung des Saarlandes und das Hohe Kommis 
sariat gerichteten Eingaben. 
3. Die von den einzelnen Industrieverbänden der Einheitsgewerkschaft abge 
schlossenen Lolmvere’nbarungen zu kündigen und umgehend neue Ver 
handlungen zum Zweck der Erhöhung der Löhne und Gehälter crufzunehman. 
4. Der Landesvorstand wird beauftragt, mit der Regierung des Saarlandes 
unverzüglich Verhandlungen aufzunehmen betr. Anpassung der laufenden 
Ve r sorgung p bezüqe der Pension^- und Rentenempfänger, der Witwen und 
Waisen entsprechend der eingetretenen Verteuerung. 
5. Bis zur Veröffentlichung einer diesbezüglichen Verordnung über dia Erhö 
hung der Versorgungsbezüge e'ne Erhöhung der Renten ob 1. August 1950 
von 20 o/ 0 als vorläufige Ueberbrückung für alle Versorgungsberechtigten 
vorzunehmen. 
6* Sollte nach Ablauf von 8 Tagen den eingereichten Forderungen der Indu 
strieverbände seitens der Arbeitgeberverbände und der Regierung betr. 
Angleichung der Löhne und Gehälter an die Teuerung nicht entsprochen 
werden, wird der Gewerkschaftsausschuß mit den Vorständen der Indu- 
ßtrieverbände zusammentratem, um dia zu ergreifenden Maßnahmen zu be 
schließen. 
Der Gewerkschaftsausschuß und der Landesvorstand sind sich der vollen Ver 
antwortung und der Folgen zur Durchführung der aufgestellten Forderungen be 
wußt in der Erkenntnis, daß der soziale Friede letzten Endes davon abhängt, daß 
unseren Werktätigen ein anständiges Einkommen garantiert wird und fordert alle 
verantwortlichen Funktionäre der Einheitsgewerkschaft auf, innerhalb ihrer Indu 
strie verbände die Mitgliedschaft auf die vom Landesvorstand und dem Gewerk- 
echaftsausschuß getroffenen Entscheidungen hinzuweisen. Wir betrachten es als 
selbstverständlich, daß bei den Auseinandersetzungen, soweit zum letzten Kampf 
mittel gegriffen werden muß, Solidarität und, Disziplin gewahrt wird. 
Der Kjetter-Wettbewerb 
Ist es su schaffen? Welcher Enderfolg den 
Lohnforderungen beschert Bein wird, das hängt 
Von der Stärke der Organisationen ab. 
Amtlicher Preisindex 
bei Licht besehen 
Die Preiserhebungen statistischer Aem- 
ter als eindeutige Unterlagen für das 
Existenzminimum herauszuziehen, ist von 
uns schon oft als unzulänglich bezeich 
net worden. Das leidige Kapitel 
beschäftigt die Gewerkschaften auch 
anderwärts. In einer Betrachtung „Preis 
steigerungen trotz gegenteiliger Behaup 
tungen“ schreibt das Zentralorgan der Ge 
werkschaft ,*Oeffentliche Betriebe, Trans 
port und Verkehr“, Stuttgart in der Sep 
temberausgabe u. a.: 
„Die Art der Reaktion der Gewerkschaf 
ten in ihrer Gesamtheit im Gebiet der 
Bundesrepublik, die infolge des Anstei 
gens der Preise für Konsumartikel ausge- 
föst wurde, wird von den Gegnern einer 
allgemeinen Lohnerhöhung als gegen 
standslos hingestellt. Das Argument lie 
fert ihnen die vom Statistischen Amt auf 
gestellte Preisindexliste, die eine Senkung 
der Lebenshaltungskosten nachweist. 
Dreser Preisindex geht aber von fal 
schen Voraussetzungen aus. Der DGB 
weist die Behauptung des Bundeswirt 
schaftsministeriums, daß die Lebenshal 
tungskosten für einen vierköpfigen Ar 
beitnehmerhaushalt im Zeitraum vom Ja 
nuar 1949 bis Febrar 195Q um 16,6 Punkte 
von 168,5 auf 151,9 (1938 = 100) gesunken 
seien, zurück. Die bundesamtliche Stati 
stik vergißt nämlich, daß bis Ende 1949 
etwa 52 Prozent der männlichen Industrie 
arbeiter ein monatliches Bruttoeinkommen 
hatten, das unter 250 DM lag. Berücksich 
tigt mqn diese Berufsschicht, so ergibt 
sich nur ein Rückgang von 5,3 Punkten, 
da diese Arbeitnehmer von ihrem Ein 
kommen relativ mehr für Nahrungsmittel 
lausgeben. Unternehmerkreise führen die 
sen Preisindex an, obwohl sie wissen, daß 
er mit dem Monat Juni .abschließt, also 
noch gar nicht die Preissteigerungen, die 
hauptsächlich erst im Monat Juli erfolg 
ten, berücksichtigen konnte. 
Allgemein sind die Lebensmittelpre:s« 
seit der Währungsreform vom Juni 1948 
bis April 1950 um rund 35 Prozent gestie 
gen. Trotzdem ist in diesem ganzen Zeit 
raum den Gewerkschaften von seiten der 
Regierungen u. der Arbeitgeberverbände 
ein Stillhalten zugemutet worden, um den 
Aufbau der Wirtschaft nicht zu gefährden. 
Die Tendenz des Ansteigens der Preise 
ist noch nicht zum Stillstand gekommen. 
Infolge der Verknappung von Roheisen 
und Stahl wird voraussichtlich eine Ver 
teuerung der Fertigwaren erfolgen. 
Die durch das „erste Wohnungsbauge- 
setz“ zugelassenen Mieten, bis zu 1,10 
DM pro gm Wohnfläche werden als un 
tragbar für die arbeitende Bevölkerung 
angesehen. Trotzdem scheint man sich mit 
dem Gedanken zu tragen, in einer neuen. 
Verordnung den Preis auf 1,50 DM pro 
qm Wohnfläche bei steuerbegünstigtem, 
neugeschaffenem Wohnraum im Höchst 
fälle festzusetzen..
	        
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