Full text: Evangelisches Wochenblatt (28.1901)

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Ar. 389. Saarbrücken, den 29. September LIMPOI. 
vahrgang. — Preis pro Quartal 50 Ins.Gebühr pro 3spaltige Zeile 20 & Auflage ⁊000 
Wohlthun. 
Gal. 6, 10: Als wir denn nun Zeit 
haben, so lasset uns Gutes thun an jeder— 
mann, allermeist aber an des Glaubens 
Genossen. 
4 nsere Zeit rühmt sich vielfach der Wohlthätigkeit 
V und Barmherzigkeit, die sie auf den verschieden— 
— 2 sten Gebieten, wo Not und Elend, Armut und 
Krankheit herrscht, ausübe, und zwar in der weit— 
herzigsten Weise, ohne sich durch die Schranken des Volks— 
tums, der Religion oder Konfession, der Klassen und Bil— 
dungsstufen dabei hemmen zu lassen. Es muß in der 
That auch anerkannt werden, daß dieses „praktische 
Christentum“ in unserer Zeit in einer Reihe von Ret— 
tungsanstalten und Wohlthätigkeitseinrichtungen, in der 
lebhaften Unterstützung der vielseitigen Bestrebungen der 
inneren Mission, in staatlichen, kirchlichen und privaten 
Unternehmungen in einem Umfang und einer Hingebung 
zur Geltung kommt, wie nie zuvor. Allerdings giebt es 
auch so viele Not zu lindern, so manche Thränen zu trock— 
nen, die Brücken zwischen arm und reich, Arbeitgebern 
und Arbeitern, Gebildeten und Ungebildeten, jung und 
alt zu schlagen und das Band der Einheit auf dem 
Grunde des Glaubens und der Liebe zu stärken. „Als 
wir denn nun Zeit haben, so lasset uns Gutes thun an 
jedermann“, wie der Heiland selbst sagt: „Ich muß wir— 
ken, so lange es Tag ist, es kommt die Nacht, da nie— 
mand wirken kann“, Joh. 9, 4. So lange wir Kraft, 
Gesundheit, Einsicht und guten Willen, Wege und Mittel 
besitzen, dem Nächsten hilfreich beizuspringen und an den 
Bestrebungen, das soziale Elend zu lindern, teil zu neh— 
men, wollen wir ungesäumt Barmherzigkeit erzeigen. 
Wer weiß, wie lange wir noch in der Lage sind? Heute 
bist du vielleicht selbst ein barmherziger Samariter, und 
morgen schon streckst du selbst flehend die Hände aus nach 
einem solchen. Unermüdlich soll ferner die christliche Liebe 
sein. Wie gerne geben wir oft unter dem unmittelbaren 
Eindruck einer großen Not, eines Unglücksfalles, einer 
schweren Krankheit eine milde Gabe, oder suchen doch zu 
trösten und aufzurichten! Wenn aber die Not oder die 
Krankheit jahrelang fortdauert, so erlahmt das natürliche 
Mitleid, und nur die Kraft von oben setzt uns dann in 
den Stand, nicht zu ermatten und zu verzagen. Die 
rechte Wohlthätigkeit muß ferner ebenfalls, wie der Apostel 
sagt, auf den Geist gesät sein, d. h. ferne von aller Un— 
lauterkeit, irdischen Selbstsucht, Eitelkeit oder Ruhm, dem 
Streben nach Wiedervergeltung, oder anderen fleischlichen 
Beweggründen. Wie ist doch die Wohlthätigkeitsbestreb— 
ung unserer Tage mit so unlauteren Zwecken und Rück— 
sichten vermischt, wenn z. B. sogenannte Wohlthätigkeits— 
bälle zum Besten der Armen gegeben werden, wenn die 
Genußsucht gerne ein christliches Mäntelchen um sich 
schlingt, oder wenn Lotterien ins Werk gesetzt werden, 
wobei doch die meisten sich insgeheim der Hoffnung hin— 
geben, daß für sie noch ein Gewinn abfallen könnte, den 
sie dann für ihre privaten Zwecke verwenden! Das sitt-— 
liche Urteil ist leider oft auch in solchen christlichen Krei— 
sen, bei denen man mit Recht Besseres erwarten könnte, 
sehr getrübt, und manche krankhafte Erscheinungen treten 
hier zu Tage. 
Die christliche Liebesthätigkeit kennt nun allerdings 
an sich keine Schranke, es steht ihr das Gebot des Herrn 
don der Feindesliebe und das Wort Pauli: „Lasset uns 
Butes thun an jedermann“, hoch. Großes hat sie gerade 
durch diesen Grundsatz vollbracht und dadurch ein Band 
um die Völkerwelt geschlungen, wie die Weltgeschichte kein 
zweites kennt. Das Großartigste, was die christliche 
Kirche hervorgebracht hat und noch immer hervorbringt, 
ist ja eine solche umfassende, barmherzige Samariterliebe, 
die in jedem Notleidenden den Nächsten erkennt. Aber 
nicht umsonst fügt doch der große Apostel hinzu: „aller— 
neist aber an des Glaubens Genossen“. Dieser Wahl— 
spruch unseres Gustav-Adolf-Vereins, auf dessen Haupt— 
dersammlung in Köln in der kommenden Woche die Blicke 
des gesamten evangelischen Deutschland gerichtet sind, hat 
besonders in unseren Tagen seine tiefe Berechtigung und 
kann denen gegenüber, die in ihren Wohlthätigkeitsbe— 
strebungen, menschenfreundlichen Unternehmungen und 
Einrichtungen gar keinen Unterschied mehr machen, nicht 
genug betont werden. Ohne engherzig gegen andere zu 
sein, soll und wird der evangelische Christ in erster Linie 
einer Glaubensgenossen gedenken, mit deren Schicksalen, 
Freuden und Leiden er sich inniger verbunden fühlt, auch 
venn sie hunderte und tausende von Stunden entfernt von 
hm wohnen, als mit solchen, die sich vielleicht ganz in 
einer Nähe befinden, aber durch eine tiefe Kluft der ge— 
samten Denkart von ihm getrennt sind. 
Es giebt eine protestantische Charakterfestigkeit bei 
aller Milde und Weichherzigkeit gegen anders Denkende, 
und es thut not, in unserer Zeit die Glaubensgenossen zu 
sammeln und sie an die dringenden Bedürfnisse der evang. 
Kirche, der evang. inneren und äußeren Mission zu er— 
innern. Darum prüfe sich ein jeder, wie es in dieser Rich— 
kung mit ihm bestellt ist, und sehe er wohl zu, daß auch 
seine Barmherzigkeit gestärkt, geläutert und stets in der 
rechten Bahn erhalten werde. Gott aber, der himmlische 
Vater, von dem ja alle guten Gaben stammen, gebe auch 
hier unseren ebangelischen Brüdern und Schwestern zum 
rechten Wollen das Vollbringen! Er lasse insbesondere 
auch von der großen Kölner Versammlung reichen Segen 
ausgehen für unsere teure viel bedrohte evangelische 
Kirche! Amen.
	        
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