Full text: Evangelisches Wochenblatt (28.1901)

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Auflage 7000. 
Saarbrücken, den 80* 
20I. 
Wägen und Wagen. 
den Krankenheilungen, Totenerweckungen, von den 
wunderbaren Speisungen der Tausende in der Wüste 
hat der Mann jedenfalls auch schon Kunde erhalten, 
und alles zusammen erfüllt ihn mit dem Wunsch, 
immer bei Jesu bleiben zu können. In der Gemein— 
schaft dieses Propheten, so denkt er, muß es einem 
a leicht werden, brav und fromm zu sein; er ist so 
iieb und hold, er redet so heilig und so herrlich, 
drankheits- und Brotsorgen nimmt er den Leuten ab, 
welch ein himmlisch Leben muß man in seiner Nachfolge 
haben! Er ist zum Wagen bereit. Aber wo bleibt 
has Wägen? Gleicht er nicht dem Mann, der den 
Turm baut, ohne vorher die Kosten zu überschlagen? 
Denkt er daran, daß Jesu Nachfolge nicht eine äußere 
Versorgung, sondern eine Kreuzesschule, eine Schul⸗ 
der Entbehrung, der Selbst- und Weltverleugnung ist? 
Und wenn er so guten Mutes sagt: „wo du hingehst“ 
— denkt er daran, daß Jesus nicht auf blumige Auen 
und nicht ohne weiteres in die himmlische Herrlichkeit, 
sondern zunächst ans Kreuz in den Tod geht? Daraus 
weist ihn Jesus hin in dem Wort vom Menschensohn, 
der nicht hat, wo er sein Haupt hinlege. Dieses Wort 
hat seine ietzte und schmerzvollste Erfüllung gefunden, 
aͤls Jesus auch beim Sterben sein Haupt nicht auf 
Sterbekissen niederlegen, sondern nur am Kreuze es 
neigen konnte. Was die Mahnung Jesu für eine 
Wirkung bei dem Manne, dem sie galt, ausübte, ist 
uns nicht gesagt. Ob er dennoch Jesu Nachfolger 
wurde, ob er angesichts der ihm eröffneten nicht eben 
einladenden Aussicht hinter sich ging, wissen wir nicht. 
Aber alle, welche ihm ähnlich sind, welche in einer 
augenblicklichen seligen Gefühlswallung sich dem Herrn 
Jesu zu seinem Dienst und seiner Nachfolge ver—⸗ 
pflichten, alle, welche sich die Nachfolge Jesu als ein 
unausgesetztes Sichergehen in seligen Empfindungen 
oder gar als eine Art Versicherungsanstalt gegen des 
Lebens Not und Plage, gegen Krankheit und Armut 
vorstellen, mögen sich die Mahnung Jelu an den ersten 
Nachfolger im heutigen Evangelium gesagt sein lassen. 
Erst wägen, dann wagen. Sonst, wenn die Gefühle 
verfliegen, wenn der Ernst des Lebens mit seinen 
nüchternen Forderungen herantritt, wenn statt der seligen 
Empfindungen die Schrecknisse der Anfechtung durch die 
Macht der Finsternis kommen, wenn sich Trübsal und 
Verfolgung erhebt um des Worts willen, wenn der 
Herr Krankheit und Siechtum schickt oder wenigstens 
die Krankheit, unter der man bisher litt, nicht weg— 
nimmt, dann ärgern sie sich bald: so habe ich's nich 
gemeint, ja wenn ich das gewußt hätte! 
Luc. 9, 57-62: Es begab sich aber, da 
iie auf dem Wege waren, sprach einer zu 
ihm: Ich will dir folgen, wo du hingehest. 
Und Jesus sprach zu ihm: Die Füchse 
zaben Gruben, und die Vögel unter dem 
Himmel haben Nester; aber des Menschen 
Sohn hat nicht, da er sein Haupt hinlege. 
Und er sprach zu einem andern: Folge mir 
nach. Der sprach aber: Herr, erlaube mir, 
daß ich zuvor hingehe und meinen Vater 
degrabe. Aber Jesus sprach zu ihm; Laß 
die Toten ihre Toten begraben; gehe du 
aber hin, und verkündige das Reich Gottes. 
Und ein anderer sprach: Herr, ich will dir 
nachfolgen; aber erlaube mir zuvor, daß ich 
ꝛinen Äbschied mache mit denen, die in 
meinem Hause sind. Jesus aber sprach zu 
hm: Wer seine Hand an den Pilug legt 
and siehet zurück, der ist nicht geschickt 
zum Reich Gottes. 
—*8 rst wägen, dann wagen, das ist ein gutes 
Vort und eine richtige Weisheit. Aber es 
— liegt auch die Gefahr darin, daß man vor 
lauser Wägen nicht zum Wagen kommt, daß man 
zwar alle möglichen guten Gedanken hat, aber 
vor lauter Bedenklichkeiten den rechten Zeitpunkt der 
Ausführung versäumt. Deswegen hat auch das 
indere Wort recht: erst wagen, dann wägen; thue 
erst einmal frisch in Gottes Namen den ersten Schritt, 
so wird sich der zweite und der dritte Schritt bis zum 
letzten hinaus schon von selbst finden. Wann aber 
das Wägen, und wann das Wagen vorangestellt werden 
muß, das läßt sich nicht im allgemeinen bestimmen, 
sondern das hängt von den Personen und den jeweiligen 
Verhältnissen ab. Wer geneigt ist, sich einseitig von 
augenblicklichen Empfindungen und Seelenbewegungen 
leilen zu lassen auf Kosten der ruhigen und verständigen 
Ueberlegung, dem wird man sagen müssen: Erst wägen, 
dann wagen. Wer aber in Gefahr ist, seine besten, 
gottgefälligsten Eutschließungen durch allerlei Wenn 
und Aber überwuchern und ersticken zu lassen, dem 
muß man immer wieder ans Herz legen: erst wagen, 
dann wägen. So hält es Jesus mit den drei Leuten, 
die ihm nachfolgen wollen oder sollen. Den ersten 
mahnt er zum Wägen, die beiden anderen zum Wagen. 
„Ich will dir folgen, wo du hingehst,“ sagt jener 
erste ganz aus eigenem Antrieb, unaufgefordert zu 
Jesus. Er ist begeistert von Jesu Worten und Thaten; 
das ist mein Mann, so tönt's in seiner Seele. Die 
Huld der Liebe, der Ernst der Wahrheit in dem 
Propheten von Nazareth hat ihn überwältiat. Von
	        
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