Full text: Evangelisches Wochenblatt (28.1901)

ihm Angehörenden als verworfene Abtrünnige, auf 
velche der Zorn Gottes ruhe in Ewigkeit. Solches 
hören zu müssen, ohne Widerspruch erheben zu dürfen; 
äglich in betreff der religiösen Uebungen einem grausamen 
Zwang unterworfen zu sein; nicht einmal die heilige 
Schrift zu eigener Stärkung und Erbauung lesen zu 
dürfen, und nichts thun zu können, sich und die 
teure Schwester solcher Knechtschaft zu entziehen, 
das war der Wurm, welcher an ihrem Herzen nagte, 
ihre Gesundheit zerstörte und allen Trost, jede Hoffnung 
oon ihr nahm. 
Als Lore in ihrer schmerzlichen Bestürzung als— 
hald begehrte nach Hause schreiben zu dürfen, mußte 
sie erfahren, daß an diesem Orte nur Briefe geschrieben 
wurden, die von den Nonnen diktiert waren. Glück— 
licherweise hatte das kluge Kind vor seiner Abreise 
der Mutter gesagt: Wenn ich unter Aufsicht schreiben 
muß, wird die Ueberschrift nur lauten: „Teure Mutter“, 
während ich sonst schreibe: „Meine liebe, teure Mama“. 
So trug denn der von Lore abgesandte Brief die 
erstere Anrede, und der Inhalt lautete nicht viel 
anders, als was damals Lydia geschrieben hatte; aber 
Frau Wellborn wußte nun genug, um sich sagen zu 
müssen, daß all ihre Angst und Sorge um das Schicksal 
der geliebten Kinder nicht zu groß sein konnte. 
(Fortsetzung folgt.) 
Im heiligen Lande. 
Reisebriefe von H. R. 
(Schluß.) 
Nun bleibt mir nur noch von der Tour nach 
Emmaus und Mizpa zu berichten; sie wurde zu Esel 
gemacht, da keine fahrbare Straße zu diesen Orten 
sührt. Der Ausflug nach Emmaus war eine Tour 
mit Hindernissen; einmal war der Weg so schlecht, 
daß man keinen Augenblick sicher war, ob man im 
nächsten noch auf seinem Langohr säße oder schon mit 
ihm in irgend einem Abgrund läge, dann aber auch, 
weil keine der Schwestern und was noch schlimmer 
war, keiner der uns begleitenden Eselsjungen den 
Weg nach Emmaus wußte. Wir irrten über eine 
Stunde im Gebirge Juda umher, ohne zu wissen, 
welchem Pfade wir folgen sollten. Einmal waren 
wir wirklich in größter Not. Unsere drei Begleiter, 
die uns beim Wegritt von Jerusalem versichert hatten, 
Weg und Sieg nach Emmaus genau zu kennen, waren 
einmal wieder spurlos verschwunden, um den Weg 
nach Emmaus zu erfragen. Das Schlimme war nun, 
daß keiner von ihnen zurückkam, nachdem wir wohl 
schon eine halbe Stunde gewartet hatten. Was sollten 
wir nun anfangen? Schwester Magdalena wußte 
einen guten Rat, der von allen angenommen wurde. 
Wir untersuchten nämlich einen der Körbe und „be— 
kämpften unsern Gram mit Essen und tranken tief⸗ 
gerührt dazu.“ Dann tauchten auf einmal auch unsere 
Jünglinge wieder auf und diesmal mit der frohen 
Botschaft, daß El-Kubêbe — so heißt Emmaus heute 
— nicht mehr fern sei. Und so war es auch. Gegen 
10 Uhr, also nach vierstündigem Ritte, war Emmaus 
erreicht. Wir fanden für unsern dreistündigen Auf⸗ 
enthalt freundliche Aufnahme in einem Franziskaner— 
kloster. Auf dem Grunde desselben sind die Ruinen 
einer alten Kreuzfahrerkirche ausgegraben worden. 
Wir konnten die drei Apsiden derselben noch deutlich 
erkennen. Die Kirche soll auf dem Platze stehen, wo 
Jesus den zwei nach Emmaus pilgernden Jüngern 
das Brot brach. (Luk. 24, 30.) Ein wunderschönes 
Bemälde in der Klosterkirche — es ist 1890 von 
ꝛinem berühmten, italienischen Maler ausgeführt, dessen 
Namen ich leider vergessen habe — stellt den Augen⸗ 
zlick dar, als Jesus von seinen Jüngern erkannt 
wurde an dem, daß er das Brot brach. Die Mönche, 
die uns während unseres Aufenthaltes zwei Zimmer 
zur Verfügung stellten und uns mit Wein, Obst und 
sochendem Wasser für Kaffee und Thee versorgten, 
haben an uns wirkliche Gastfreundschaft geübt; denn 
bon einer Bezahlnng wollten sie nichts hören. 
In der größten Hitze mußten unsere Langohre wieder 
Jesattelt und bestiegen werden, denn wir wollten ja 
iͤber Mizpa nach Jerusalem zurückkehren und hatten 
darum keine Zeit zu verlieren. Nach etwa einstündigem 
Ritte hatten wir es erreicht. Das Dorf besteht nur 
aus wenigen bewohnten Häusern; es zeigt an seinen 
in den Fels eingeschnittenen Mauerwänden und schönen, 
zroßen Bausteinen an der Außenseite der Moschee 
Spuren von hohem Alter. Der Berg Nebi Samwil 
(das heißt Prophet Samuel), auf dem Mizpa liegt, 
ist der höchste Berg in der Umgegend von Jerusalem 
und liegt 885 Meter über dem Meeresspiegel. Hier 
hat man den Geburts- und Wohnort des Propheten 
Samuel zu suchen und hier zeigte man uns auch sein 
Brab. Dasselbe befindet sich in einer Moschee, in 
die wir — kraft eines Backschisch — Entritt erlangten. 
Diese ist ein Teil einer christlichen Kirche, die im 
Jahre 1157 von den Krenzfahrern hier erbaut wurde. 
Man gestattete uns, das Minaret zu besteigen, von 
wo aus wir eine schöne Aussicht auf Jerusalem und 
die es umgebenden Berge hatten. Nachdem wir uns 
durch die vor der Moscheethüre stehende und nach 
Backschisch schreiende Türkenjugend hindurch gedrängt 
jatten, süchten wir uns ein schattiges Plätzchen. Es 
and sich unter einem Feigenbaum, wo dann Kaffee 
gekocht und die Vorräte ausgepackt wurden, die uns 
jach dem anstrengenden Ritte trefflich mundeten. 
Bald nach 3 Uhr saßen wir schon wieder im Sattel; 
File that not, wenn wir vor Dunkelwerden die hals⸗ 
„recherischen Pfade des felsigen Gebirges Benjamin 
vollten zurückgelegt haben. Ohne Unfall kamen wir 
bald nach 6 Uhr in Jerusalem an. 
Somit, meine Lieben, wäre ich auch am Ende 
meiner Reisebeschreibung angelangt. Ich hätte zwar 
noch Stoff genug; aber — ich will nur ehrlich sein — 
ich habe keine Geduld mehr; auch fehlt mir die Zeit; 
denn das Weihnachtsfest rückt heran und noch manches 
Jarrt seiner Vollendung. Ich komme ja nun auch 
hald und kann euch dann mündlich von den Aus— 
zrabungen, den Königs- und Richtergräbern und noch 
nanchem andern erzählen, was ich gesehen habe. 
Jedenfalls war es eine Zeit reichsten Genusses, die 
ich im irdischen Jerusalem verlebt habe. Schöner, 
ausendmal schöner wird's aber einst im himmlischen 
Jerusalem sein. Dort genießen wir vereint, während 
ich hier einsam, das heißt, getrennt von denen, die 
nir die Liebsten auf Erden sind, die heiligen Stätten 
schauen mußte. Daß nur dereinst im obern Jerusalem 
teines von uns fehle. Das walte Gott! 
Beirut, den 2. Dezember 189...
	        
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