Full text: Evangelisches Wochenblatt (28.1901)

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afG“jIr vro 3 spaltige Zeile 20 H. Auflage 6900. 
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Saarbrücken der 
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1901. 
Der Geist der Wahrheit. 
Joh. 15, 26. Wenn aber der Tröster 
tommen wird, welchen ich euch senden 
werde vom Vater, der Geist der Wahr— 
jeit, der vom Vater ausgeht, der wird 
zeugen von mir. 
— Leben unseres Herrn in dieser Welt war 
XX ein beständiges Kommen und Gehen, ein 
Einmmer neues Geschenkt- und wieder Genommen⸗ 
Werden. Was Weihnachten gebracht, nimmt der Char⸗ 
sreitag wieder, was der Charfreitag genommen, bringt 
Ostern wieder, was Ostern gebracht, nimmt uns die 
Himmelfahrt, und was die Himmelfahrt genommen, 
sommt uns zu Pfingsten wieder im heiligen Geiste. 
Jedes neue Nehmen soll ihnen den Jüngern zu noch 
inniger Gemeinschaft wiederbringen, das ist der freilich 
aur mit halbem Glauben ergriffene Trost der Jünger 
in ihren Abschiedsstunden. 
Den Geist der Wahrheit nennt Jesus den Tröster, 
den er vom Vater senden will. Welchen bessereren 
Tröster könnten wir uns wünschen? Ist nicht das Trost⸗ 
loseste in der Welt der Geist der Lüge? Die Lüge 
ist die listige Dienerin und Bahnbereiterin der Sünde; 
würden denn die Menschen so unbegreiflich leichtsinnig 
der Sünde entgegen kommen, wenn sie nicht mit 
lockenden Bildern von Genuß, Freuden, Glück, Frei⸗ 
heit und Macht zu berauschen verstände? Durch die 
Lüge suchen die Menschen einer dem andern zuvorzu⸗ 
rommen und einer den andern auszubeuten, und wie—⸗ 
diel muß die Lüge und der Selbstbetrug Dienste thun 
gegen das eigene Herz und seine guten Regungen, gegen 
hdas Gewissen und die warnende Stimme Gottes in 
der eigenen Brust. Aber im Hintergrunde bleibt doch 
noch ein Bewußtsein davon, wie tief sich der Mensch 
s Sklave der Lüge erniedrigt, und das Gefühl der 
eigenen Unwahrhaftigkeit läßt sich nicht von der bitteren 
Selbstverachtung reinigen. 
Die Lüge ist von unten, aber die Wahrheit kommt 
aus Gott. Die Welt ist voller Geheimnisse und das 
Leben voller Rätsel; aber in Gott werden sie alle ge— 
löst. Darum ist auch der Glaube der große Finder 
der Wahrheit und die göttliche Thorheit gelangt leichter 
in ihren Besitz als die Weisen der Welt. Die einzelnen 
Wahrheiten sind noch nicht die Wahrheit: die Wahr⸗ 
heiten erwirbt sich der Menschengeist durch mühsames 
Forschen und Suchen, die eine große Wahrheit aber 
schenkt Gott der betenden Seele. Das sind nicht Worte 
und Formeln, nicht Erkenntnisse und Beweise, sondern 
das sind Erfahrungen und inneres Leben. Denn die 
Wahrheit ist Gott selber, und die Wahrheit, die er 
uns erfahren läßt, ist Christus in uns. Wer glaubt, 
sucht nicht die Wahrheit, er hat sie; denn er hat den 
zu eigen, der von sich selber sagte: „Ich bin der Weg, 
die Wahrheit und das Leben.“ 
So wird der Geist der Wahrheit zum Menschen⸗ 
röster. Wohl ist er zunächst ein strafender Bußprediger, 
denn sein helles Licht deckt uns die dunklen Stellen 
in unserm Leben auf, und die innere Anfrichtigkeit, 
welche er in uns wirkt, wird zur Selbstbeschämung 
und Demütigung. Aber neben der menschlichen Sünde 
zeigt er die göttliche Gnade und löst das bitterste 
Ratsel im Menschenleben durch das allerseligste Rätsel, 
die Liebe Gottes. Das ist die selige Erfahrung eines 
Thristenherzens und seine große entscheidende, tröstende 
Wahrheit: Gott kann es nicht böse mit mir meinen! 
Und wenn ich nur Gott liebe, dann müssen mir alle 
Dinge zum besten dienen. Liegt nicht auch in dunklen 
Stunden der Trost schon mitten inne, wenn ich weiß, 
daß sie, im Aufsehen zu Gott getragen, mich reinigen 
und kräftigen sollen zu einem ewigen Leben? Trägt 
nicht das Schwert selber schon Heilung und Linderung 
in die Wunde, die es mir schlägt, wenn ich nur ge— 
wißlich überzeugt bin, daß es von Gottes Hand ge— 
führt wird? 
Nur solches Vertrauen auf Gott giebt den festen 
Mut zur Wahrhaftigkeit. Glaubenslosigkeit macht feige, 
denn bei allen äußeren Trotzen und Drohen macht sie 
doch schwach und blind. Nur der weite Blick, der 
bis in den Himmel hineindringt und das Ziel aller 
Dinge und das Ende unseres Lebens zeigt, läßt auch 
die irdischen Dinge so sehen, wie sie wirklich sind, und 
die rechte Stellung der Menschen zu ihnen erkennen. 
Der kurze Blick, der nur auf die Erde und die kurzen 
rdischen Ziele blickt, sieht wie ein Auge durch schief⸗ 
geschliffene Gläser: die Gestalten werden verzerrt, die 
einen kleiner die anderen größer, die Stellungen und 
und Verhältnisse werden verschoben, bis am Ende der 
Betrogene zu dem trostlosen Pilatus-Verzicht kommt: 
Was ist Wahrheit? 
Ein Chrift kann sich entschlossen auf die Wahrheit 
stellen; er wagt nichts, wenn er sich fest entschließt, 
hinfori nach der Wahrheit zu leben, welche Gott in 
seine Brust und in die Well gelegt und durch sein 
Wort erklärt und bekräftigt hal. Wer nicht glaubt, 
wagt das nicht. In aller Unentschiedenheit und Halb⸗ 
heit ist Unklarheit und Unwahrheit, das Hinken nach 
beiden Seiten ist ein Ausfluß der inneren Unaufrichtig⸗ 
keit; das „Ich will nicht“ wird zur eignen Entschuldigung
	        
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