Full text: Evangelisches Wochenblatt (13.1886)

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1715 Bostver zeichnis. Dreizehnter Jahrgung. — Preis pro Quartal 50 4. Ins. Gebühr zro 3spaltige Zeile h a. Auflage 4800 
138. Neunkirchen, 532 den 28. Mätrz 1886. 
Der Gerechte im Gericht der Angerechten. 
Matth. 260. 37— 61 
Ju dem Staunenswerten in der Passionsgeschichte 
Sgehört das wunderbare Ineinandergreifen goöͤttlicher, 
menschlicher und teuflischer Gedanken. Mit nur 
menschlichen Augen betrachtet ist die Passion Jesu 
Christi ein finsteres Gemälde ohne ein Spur von Licht, 
eine Verkettung von Ungerechtigkeit, Schwachheit und 
Bosheit ohne Ende. Wo ist da, möchte man fragen, 
der Finger Gottes? Siehe, die Bibel zeigt ihn ganz 
deutlich. Schritt vor Schritt begleitet sie den leidenden 
Christus mit ihrem Zengnis: das geschah aber alles, 
auf daß die Schrift erfüllet würde, und 
sagt damit, daß Gott dies alles vorausgesehen und zu— 
vor bedacht hat. Auf die schwärzesten Stellen fällt da— 
bei das meiste Licht. Wo die teuflische Bosheit den Sieg 
zu behalten scheint, da feiert die ewige Liebe ihre Tri— 
umphe, und das Resultat gläubiger Betrachtung dieser 
wunderbar verschlungenen Wege ist der Lobpreis an— 
betenden Staunens: O welch eine Tiefe des 
Reichtums, beides, derWeisheit und Er— 
kenntnis Gottes! 
Solche Gedanken kommen uns vor dem Bilde, welches 
die Passionsgeschichte uns heute entrollt: Jesus, der 
Gerechte,im ungerechten Gericht. 
Indas hat die letzte, freche Sünde gethan, hat mit 
dem Verräterkuß den Woͤlfen das Lamm gezeigt, und 
nun geht es mitten in der Nacht zu dem Palast des 
Hohenpriesters Kaiphas, wo schon die Schriftgelehrten 
und Aeltesten sich versammelt haben zum sofortigen Ver— 
hör. Warum diese Dringlichkeit? Ja, diese unheimliche, 
nächtliche Sitzung gehört zu dem unheimlichen, finsteren 
Werk, das sie vorhaben. Sie wollen Jesum verderben, 
je schneller, desto lieber. Warum? Weil die Finsternis 
das Licht hafset. Sie wollen den Mund ftumm 
machen, der ihnen so laut ins Gewissen redet. Sie 
wollen endlich Ruhe haben vor dem, dessen Wort ihnen 
Unruhe macht. Sie wollen den Ruhm ihrer Werk— 
gerechtigkeit sich nicht absprechen lassen von dem, der 
eine andere Gerechtigkeit predigt, besser, als die der 
Schriftgelehrten und Pharisäer. Darum steht jetzt der 
Gerechte im Gericht der Ungerechten. Das ist die mensch⸗ 
liche Deutung des Bildes, die psychologische Erklärung, 
wie die Gelehrten sagen. Wir aber halten uns an die 
göttliche Deutung, denn die gibt seligen Trost für das 
Herz. Der Herr hat sie schon begonnen im Garten. 
Als Petrus im fleischlichen Eifer mit dem Schwert drein 
schlug, wehrt Jesus und spricht: „Wie würde aber die 
Schrift erfüllt? es muß also gehen.“ Und zu der 
Schar selbst spricht der Herr: „Dies ist eure Stunde und 
die Macht der Finsternis; und dies alles ist geschehen, 
auf daß erfüllet würden die Schriften der Propheten.“ 
Und Erfühlung der Schrift ist die ganze 
sich nun abspielende Gerichtsverhandlung vor Hannas 
und Kaiphas. Ein ungerechteres Gericht hat die Erde 
nie gesehen. Die Hohenpriester aber und die Aeltesten 
und der ganze Rat suchten falsch Zeugnis 
wider Jesum, auf daß sie ihn töteten, und 
fanden keins — zur Schmach der Menschheit stehen 
diese Worte geschrieben (V. 59). Eine Anklage ist gar 
nicht vorhanden, die Richter selbst sind die Kläger. Sie, 
die Gott berufen hat, die Wahrheit ans Licht zu bringen, 
sie suchen salsch Zeugnis, das sie wider Jesum brauchen 
könnten. Und fanden keins. Wie sollten sie 
auch etwas finden? Ein Gerechterer hat nie im Gericht 
gestanden, als unser Heiland. Die ungerechten Richter 
müssen es selbst mit ihrem vergeblichen Suchen beweisen: 
Jesus ist der Gerechte, ohne alle Schuld der 
Sünde. Hier liegt ein öffentliches Leben von drei 
Jahren aufgeschlagen wie ein Buch (vergl. Joh. 18, 20), 
und 71 Männer, geübte Meister im Entstellen und 
Verdrehen, suchen mit dem Eifer einer blutgierigen 
Meute in diesem Buche nach einer Spur von Bösem 
und — finden keine. Selbst zwei falsche Zeugen, die 
sich endlich finden lassen, das weissagende Wort Jesu 
von seinem Sterben und Auferstehen ihm zu einer An— 
klage zu machen, als habe er sich an dem Tempel ver— 
greifen wollen, kommen in ihrer Lüge nicht überein, ihr 
Zengnis widerspricht sich. Stundenlang schon haben 
die Verhandlungen gewährt und nur ein Resultat er— 
geben: Jesus ist unschuldig. Schon will es Tag wer— 
den, da greift der Hohepriester zu dem letzten Mittel. 
Feierlich schiebt er Jesu den Eid zu: Ich beschwöre 
dich bei dem lebendigen Gott, daß du 
uns sagest, ob du seist Christus, der 
Sohn Gottes. Und feierlich antwortet Jesus und 
majestätisch kurz: Ich bin es. Da fahren die Glieder 
des Hohenrates entsetzt in die Höhe, in heuchlerischer 
Betrübnis zerreißt der Hohepriester sein Kleid und ruft: 
Er hat Gott gelästert, was bedürfen wir weiter Zeug— 
nis! Jetzt ist der Augenblick gekommen, den Haß Israels 
an dem Nazarener zu kühlen. Jetzt kann der heuchle— 
rische Hohepriester die Stimmen sammeln, seine Er— 
wartung täuscht ihn nicht. Was dünket euch? fragt er
	        
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