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namentlich weibliche, durch Gottes Wort angefaßt, nach
der Entlassung sich auf dem rechten Wege halten woll—
len, war ihnen das fast unmöglich gemacht, weil kein
hrliches Haus sich ihnen aufthat und somit die Laster—
hjöhlen ihre einzige Zuflucht blieben. Niemand wollte
sjier helfend eingreifen. Da bot Fliedner einer solchen
Verlassenen und Ausgestoßenen in seinem kleinen Gar—
enhaus im Jahr 1833 eine Zuflucht an. Samt ihrer
pPflegerin schlief dieselbe auf dem Bodenraum dieses
Häuschens, der nur durch eine Leiter zugänglich war.
Das ist der kleine, geringe Aufang der Kaiserswerther
Anstalten. Deren wichtigste, die Diakonissen—
Anustalt, kam im Jahre 1836 hinzu.
In Holland hatte Fliedner eine der Diakonie der
ilten Kirche ähnliche Einrichtung gefunden. Eine Schrift
des Pfr. Klönne wies gleichfalls auf die Sache hin.
Da wagte es Fliedner und kaufte ein Haus zu dem
Zweck: Diakonissen auszubilden und zu beschäftigen.
Hertrud Reichard, die Tochter eines Arztes, trat
als erste Schwester ein. Eine katholische Magd kam
als erste Kranke ins Haus. Fliedners Frau, Friederike,
geb. Münster, stand ihm als Vorsteherin der kleinen,
zuerst in höchst kümmerlichen Verhältnissen existierenden
Austalt, zur Seite. Doch rasch gings aufwärts. Schon
nach zwei Jahren konnte das erste auswärtige Arbeits—
jeld, das Bürgerhospital in Elberfeld, übernommen
verden. — Unterdessen hatte das kleine Gartenhaus
ichon wieder zur Pflanzstätte einer neuen Thätigkeit.
einer Kleinkinderschule, dienen müssen.
Aus diesem dreifachen Anfang, dr Magdale—
renpflege, dem Diakonissenhaus, der
Kleinkinderschule, ist alles weitere erwachsen,
und zwar je länger, desto mehr, also, daß die Diakonissen—
Anstalt der Mittelpuntt, der feste Stamm wurde, an
welchen sich das übrige anlehnte.
Das liebe Krenz, viel Arbeit, reicher Gottessegen —
mit diesen drei Worten läßt sich der Inhalt von Flied—
ners Leben bezeichnen. Der Tod seiner Frau und
mehrerer Kinder, eigne ernste Erkrankungen, welche ihn
die letzten 7 Jahre seines Lebens ganz an Kaiserswerth
jesselten, sowie viele Schwierigkeiten und Nöte, wie sie
die Fürsorge fürs leibliche und geistliche Wohl der
wachsenden eigenen und der gewaltig sich ausdehnenden
Anstaltsfamilie mit sich brachte, weite und durch leib—
liche Schwachheit oft recht beschwerliche Reisen zur Aus—
breitung der Diakonissensache — dies und anderes läßt
die Kreuzesspuren reichlich erkennen. — Damit ging
hand in Hand eine Lebensarbeit, bei deren Ueberblick
nan sich staunend fragt, wie die Kraft eines Mannes
zu ihrer Bewältigung ausreichen konnte. Wir nennen
nur die pfarramtliche Thätigkeit an seiner ursprüug—
lichen, später nur noch an der Anstalts-Gemeinde, die
ausgebreitete Korrespondenz, die Gründung und Er—
bauung einer Anstalt nach der andern, auch solcher,
welche nicht den nächsten ihm anvertrauten Interessen
dienten, die Abfassung vieler zumteil umfänglicher Bü—
her, weite Reisen in Deutschland, bis in den Orient
und nach Amerika. Freilich war Fliedner bei alldem
von trefflichen helfenden Kräften unterstützt: seiner
ersten und seiner zweiten Frau — Karoline, geb. Ber—
kheau — seinem Schwiegersohn, dem jetzigen Vorsteher
der Anstalten, Pastor Inlius Disselhoff u. s. w.
— Der reichste Gottessegen krönte sein Leiden und Ar—
beiten. An der heranwächsenden Schar seiner eigenen
Kinder durfte Fliedner seine Freude sehen. Sein Le—
benswerk, die Wiedererweckung der weiblichen Diakonie
in unsern Tagen, gedieh sichtbarlich; die persönlichen
Kräfte, sowie die Geldmittel strömten zu; es entstanden
Tochteranstalten in engerem oder freierem Auschluß ans
Mutterhaus; in breiten Schichten des Christenvolkes
don den Geringsten bis zu den Höchsten (König Frie—
drich Wilhelm IV.) schlug die Diakonissensache Wurzel
und gewann Verkrauen; selbst in den letzten 7 Leidens—
ahren war ihm die Ausführung einiger seiner größten
Unternehmungen vergönnt.
In seinen letzten Lebenstagen lausen die Spuren von
Leid, Arbeit und Segen sichtbarlich zusammen.' Seine
Lippen strömten über von Worten fester Glaubenszu—
»ersicht. „Das Krenz ist dennoch gut, wenn es auch
vehe thut, es ist so gut, so gut.“ So pries und rühnite
ex. „Ich bin so müde“, war eines seiner letzten Worte.
Unter den Liedern der Diakonnissen, leise einzelne Worte,
vie „Todesüberwinder — Sieger“ aussprechend. ver
schied er am 4. Ott. 1854.
Als des Erneuerers des altkirchlichen Diakonissen—
amts in unsern Tagen wird Fliedners Andenken im
Segen bleiben. Von besonderer Wichtigkeit war es,
daß er mit seinen Bestrebungen au das Erbe aus der
Jugeudzeit der Kirche, an die Diakonie, welche ihre
Wurzeln im Neuen Testament hat, anknüpfte; dann
aber, daß er den Gedanken in einer Form verwirklichte,
die ganz besonders den Verhältnissen unserer Zeit ent—
'prach, nämlich in der Gestalt der Genossenschaft.
Bis heute ist sein Werk im Segen weitergeführt
vorden. Von dessen Ausdehnung mögen folgende An—
gjaben zeigen: in Kaiserswerth selbst reihen sich dem
Mutterhaus als eigentliche Tochterhäuser an: ein Ho—
pital mit 150 Betten, eine Heilanstalt für evangelische
deibliche Gemütskranke, ein Magdalenenstift, ein Mäd—
henwaisenhaus, das Lehrerinnenseminar, in welchem
ruuch solche, welche nicht Diakonissen sind, in großer
Zahl ihre Ausbildung erlangen, die Kleinkinderschule,
die Oekonomie, die Diakonifsenvorschule, das Siechenhaus
Paul Gerhardstift. Die Zahl der auswärtigen Filia—
en ist noch größer, nämlich: je ein Erholungsort für
tranke Schwestern in Salem bei Ratingen und in Wall—
haum bei Hattingen, letzteres zugleich für genesende
Kinder, je ein Krankenhaus in Jerusalem und Alexanu—
drien, je ein Mädchenpensionat in Hilden, Smyrna,
Beirut und Florenz, Waisen- und Erziehungshäuser
für arme Kinder in Altdorf, Smyrna, Beirut und
Jerusalem ꝛc. ⁊c.
Die Zahl der Schwestern beträgt zwischen 6 und7
Hundert, die Zahl aller Arbeitsfelder etwa 170.
Wahrlich, der Herr hat großes an diesem Hause
zethan. Möge Er auch ferner sein Schild und sein
sehr starker Lohn sein und es zum Scegen für viele
etzen; und möge Er die evangelische Christenheit er—
voeckeni, daß sie das Jubelfest der weiblichen Diakonie
mit Loben und Danken begehe und sich auf die Wich—
ligkeit derselben noch besser besinne, als bisher, damit
dit noch weitaus nicht genügende Zahl der Schwestern
sich mehre und so viel nachdrücklicher, als seither, den
Nöten in unseren Gemeinden begegnet werden könne.
Wollten doch die Pfarrer und Lehrer mit allen gläu—
bigen Hauseltern immer treuer und thätiger für diese
wichtige Sache eintreken, damit wir Evangelische nicht
immer wieder beschämt werden von dem Eiser der rö—
mischen Kirche und ihrer barmherzigen Schwestern—
schaften!